KINDERFRAGEN UND
SPRACHENTWICKLUNG IM
VORSCHULALTER
Texte:
Dr. phil. Hartmut Schönherr
Bilder: M.A. Svenja Rehse (Künstlerin, Dozentin in
der Erzieher*innen-Ausbildung)
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"Wauwau wo is?" (1 Jahr)
"Wie macht ein Baby?"
(2 Jahre)
"Wer mag alles
Regenwürmer?" (3 Jahre)
"Haben Bäume Muskeln?"
(4 Jahre)
"Kann die Mama ein
Affenbaby bekommen?" (5 Jahre)
"Ist es echt, wenn wir
leben?" (6 Jahre)
Die Anker-Links führen Sie zu weiteren
Beispielen, Antworten und Erläuterungen auf dieser
Seite unten.
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Was Sie erwartet
Kinder müssen fragen, um ihre Intelligenz, ihre
soziale Kompetenz und ihr Verständnis von der Welt zu
entwickeln. Kinderfragen sind ein wichtiger Antrieb in
der Sprachentwicklung und in der allgemeinen kognitiven
und seelischen Entwicklung. Und die meisten Kinder
fragen viel und gern. Allerdings gibt es auch Kinder,
die sich mit Fragen zurückhalten. Das kann individueller
Charakter sein, aber auch eine Anpassung an Reaktionen
von Erwachsenen auf ihre Fragen. Ignorieren Sie die
Fragen des Kindes nicht, halten Sie ihm aber auch keinen
langen Vortrag. Achten Sie darauf, was das Kind
eigentlich erfahren will mit seiner Frage. Auch, indem
Sie zurückfragen. Und indem sie sich für seine
Antworten, seine Vermutungen interessieren.
Kinderfragen sind mal klug, mal amüsant, mal irritierend,
mal lustig - aber nie lächerlich! Und sie können uns
gescheiter machen: Da hat das Kind genau hingeschaut und
etwas bemerkt, was Erwachsene zu Unrecht nicht (mehr)
beachten. Oder es hat eine interessante Theorie über einen
Sachverhalt entwickelt, die es zu seiner Frage führt. Das
erfahren wir aber erst, wenn wir uns auf seine Frage
einlassen.
Zum Erwerb des kindlichen Weltwissens gehört auch, sich
selbst an Antworten zu versuchen. Daher ist von den
Erwachsenen gefordert: Geduld beim Zuhören, ohne gleich
"besser zu wissen". Und keine Sorge bei "Fehlurteilen" des
Kindes. Kinder sind ganz ausgezeichnet in der Praxis dessen,
was Konrad Adenauer einmal so formulierte: "Was kümmert mich
mein Geschwätz von gestern, nichts hindert mich, weiser zu
werden."
Der Satz des Sokrates, "Ich weiß, dass ich nichts weiß" ist
eine gute Anleitung für Erwachsene, sich gemeinsam mit
Kindern auf den Weg zu machen, die Welt neu zu entdecken.
Allerdings erwartet das Kind beim Erwachsenen auch eine
gewisse Faktenfestigkeit. Vor einem Löwenzahn sollte man
sich nicht mit Sokrates herausreden.
*
Die nachfolgende Sammlung
umfasst die Fragen eines Kindes im Vorschulalter,
das hier "Klara" genannt wird. Hinter der Frage ist
jeweils das zugehörige Alter angegeben. Die Zeichen
"-" und "+" bedeuten, dass das Kind am Anfang (-)
bzw. am Ende (+) des genannten Alters stand.
Wichtiger als eine exakte zeitliche Einordnung ist
mir allerdings der Entwicklungs- und Sachkontext,
auf den ich in den Kommentaren eingehe. Denn
kindliche Entwicklung verläuft nicht nach starren
zeitlichen Schemata, sondern - im Rahmen der
körperlichen Entwicklung - nach funktionalen
Beziehungen. Es gibt erhebliche Unterschiede in der
Sprachentwicklung verschiedener Kinder, und der
Spracherwerb verläuft nicht schlicht linear, sondern
in Schüben, mit Verzögerungen, mit Vorgriffen und
Rückgriffen, auch mit - völlig normalen -
vermeintlichen Rückschritten.
Es geht gerade im Umgang
mit Kinderfragen darum, jedem Kind seinen eigenen
Entwicklungsweg zu ermöglichen und es auf diesem Weg
zu fördern! Dabei möchten ich mit meinen
Erörterungen zu den Kinderfragen helfen. Sie sollen
Hinweise und Verständnishilfen sein, Anregungen zum
besseren Verständnis der Kinderfragen geben. Es ist
wenig hilfreich, dogmatisch festzulegen, was wann
"gekonnt" werden muss. Ich möchte Wege zeigen, wie
das Kind zu seinem Können kommt, nicht, wann es wo
sein sollte. Berücksichtigt wird allerdings von mir,
was sinnvoll in den letzten Vorschuljahren uns
Hinweise auf die "Schulreife" gibt.
Lektüreempfehlung: Salman Ansari, Rettet
die Neugier! S. Fischer 2013
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Fragetypen, Frageinhalte - 99 Beispiele von Kinderfragen
im Alter von 0 bis 6 Jahre
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Gestenfragen
???
(0+/1-)
Ein fragender Gesichtsausdruck, Suchbewegungen,
Wedeln mit Gegenständen - das sind gestische
Mittel des Kindes, mit denen es schon vor dem
Spracherwerb versucht, Fragen zu artikulieren.
Ich erinnere mich an folgende Situation, als die
Mutter Klaras bei der Arbeit war: Das Kind
krabbelte wiederholt zur Tür und schaute mich
fragend an. Die Frage dürfte gewesen sein "Wo
ist die Mama?" oder "Kommt die Mama?".
Klara war dann sehr zufrieden mit einer
"Antwort", in der häufig und versichernd der
Ausdruck "Mama" vorkam. |
Eine andere Frage in dieser frühen Phase, die klar
identifizierbar ist, lautet "Wie funktioniert das?" - wobei
die Aufforderung impliziert ist: "Zeig mir, wie das
funktioniert": Ein Gegenstand wird angeschaut, daran
herumgespielt, er wird hochgehalten, dem Erwachsenen
entgegengehalten.
Häufig ist um den ersten Geburtstag herum auch eine Geste
mit der impliziten Frage: "Möchtest du davon?" Das Kind hält
dem Erwachsenen etwas entgegen, wovon es selbst gerade isst.
Wobei hier auch ganz andere Deutungen möglich sind, etwa die
bloße Wiederholung einer Erwachsenengeste, das Spiegeln des
Gefüttert-Werdens.
Sind die ersten Fragen Gesten? Aktuelle Untersuchungen an
der University of California in Los Angeles zum
kommunikativen Verhalten von Affenkindern und menschlichen
Säuglingen legen dies nahe, insofern sie den Ursprung der
Sprache aus Gesten belegen.
Wir alle kennen auch die Zeigegesten von Säuglingen, mit
denen sie ihr Interesse an einem Gegenstand bekunden und oft
auch ein Wollen. "Das da will ich" kann eine Bedeutung
dieser Gesten sein. Als Frage verstanden könnten sie
bedeuten: "Darf ich das haben?". Hier deutet sich schon ein
Ich-Bezug an, ein erstes Selbst-Verständnis des Kindes im
triadischen Verhältnis zu Gegenstand und anderer Person.
Wir dürfen also davon ausgehen, dass vor dem ersten Wort das
Kind bereits Fragen zu artikulieren versucht, sobald es in
der Lage ist, Fragen beim Erwachsenen als solche zu
erkennen. Dies geschieht um den ersten Geburtstag herum.
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Einwortfragen. Nahrungsmittel
ESSEN? (1)
Im konkreten Fall ging es um eine Beere an einem
Strauch. Klara zeigte darauf und fragte "Essen?".
Die Frage "Essen?" hat sie gestellt im Sinne von
"Kann man das essen?", "Darf ich das essen?"
Erkennbar ist eine Frage in dieser Phase der
Sprachentwicklung nur an der Fragebetonung. Was sie
bedeutet, kann im Kontext erschlossen werden. |
Kindliches Sprechen im engeren Sinne beginnt mit
einzelnen Wörtern, bei den meisten Kindern auf Dinge
oder Personen bezogen, "mama", "ball" etwa. Bei manchen
Kindern dominieren jedoch Handlungen: "dada", "bielen"
(spielen). Klar zu trennen sind die beiden Bereiche zu
Beginn allerdings nicht, "hamham" etwa kann sich auf die
Aktion, aber auch auf konkrete Esswaren beziehen. Im
allgemeinen werden diese Wörter als "Einwortsätze"
bezeichnet, da das Kind mit diesen Wörtern einen
komplexen Sachverhalt, in der Regel ein Bedürfnis,
artikulieren möchte.
Das Kind am Beginn des Spracherwerbs fragt wenig, es
will etwas ("Ball", "dada") - oder auch nicht ("nein!")
- und es trifft Feststellungen ("kaputt"). Die ersten
Einwortfragen sind entsprechend ganz pragmatisch
orientiert und eng an das Wollen angelehnt. In der Regel
geht es um die Befriedigung von Bedürfnissen, "Dada?"
kann auf die Lust verweisen, nach draußen zu gehen,
"Oma?" darauf verweisen, dass das Kind die Oma sehen
möchte.
Die Frage "Essen?" richtet sich hier jedoch deutlich
bereits auf Wissenserwerb, verlangt nicht nur nach etwas
zu essen - darauf richtet sich eher die Frage "Hamham?"
-, sondern möchte etwas erfahren, lernen. Nämlich
konkret, ob diese speziellen Beeren essbar sind bzw. ob
es diese Beeren essen darf.
Das Kind hatte schon früh verstanden, dass bestimmte
Beeren essbar sind, andere nicht. Ob dahinter
instinktartig verankerte Wissensbestände stehen oder
ganz unspektakulär die wiederholten Hinweise von
Erwachsenen, zunächst bestimmte Gegenstände, später
bestimmte Beeren (zum Beispiel auf dem Spielplatz, aus
der Grünanlage) nicht in den Mund zu nehmen, ist schwer
zu beantworten. Ich neige zu letzterem, wundere mich
bisweilen aber auch, wenn Kinder (zugegeben solche, die
"naturnah" aufwachsen) im Misstrauen gegen bestimmte
Beeren recht treffsicher sind.
Mit knapp zwei Jahren äußerte Klara einmal ein klagendes
"Eabean!?". Sie wollte Erdbeeren, aber - das machte der
Kontext klar - sie wollte diese selber pflücken in
meinem Garten. Die implizite Frage lautete: "Wann gehen
wir wieder einmal Erdbeeren pflücken?" Zweiwortsätze
beherrschte sie da schon, aber ihre Intention konnte sie
auch mit dieser Einwortfrage umsetzen. Ende des zweiten
Lebensjahres lautet eine häufige Frage dann "Kann man
essen?". Das Konzept der "Einwortsätze"
begründeten die Entwicklungspsychologen William Stern und
seine Ehefrau Clara Stern 1907 in "Die Kindersprache".
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Zwei-/Dreiwortfragen. Wo-Fragen.
Wahrnehmungswelt
WAUWAU WOIS? (1+)
Wir standen mit dem Auto an einer Ampel vor dem
Zebrastreifen, ein Mann kam mit einem Hund, den
Klara sofort registrierte: "Wauwau!" Als der
Mann vor unserem Auto vorbeigeht, verschwindet
der Hund aus ihrem Gesichtsfeld, da kommt die
Frage "Wauwau wois?".
Dass der Hund von unserem Auto verdeckt wird für
sie, begreift Klara nicht. Die Antwort sollte
auf das Verdecktsein eingehen. |
Erinnern wir uns: Das ist auch das Alter, in welchem Kinder
sich die Augen zuhalten und meinen, wir könnten sie nicht
mehr sehen. Verständlich, dass in diesem Alter die Frage
"wo?" von so zentraler Bedeutung wird. Verständlich auch,
dass das, was nicht mehr sichtbar ist, als nicht mehr
anwesend eingeordnet wird.
Die Frage steht für den Beginn der
Zwei-/Dreiwortsätze, in der Forschung dem Alter 15-18
Monate zugeordnet. Waren Fragen bislang - als einzelne
Worte - nur an der Betonung erkennbar, kommen jetzt auch
spezifische Fragewörter ins Spiel. Wobei das
Fragepronomen "Wo" eine prominente Rolle spielt. "Ball
wo is?" wäre eine analoge Frage aus dem Pool dieses
Typus. Ähnlich auch die Frage "Wo is Auto?" ein paar
Wochen später - wir waren gerade ein paar Meter vom Auto
entfernt, es ging wohl auch darum, das Fragewort zu
üben.
Zweiwortsätze entwickelt das Kind gegen Ende des zweiten
Lebensjahres. Dabei wird ein nominaler Ausdruck mit
einem Verbkomplex verbunden. Wobei "Verbkomplex"
großzügig zu verstehen ist, da das Verb häufig nur
implizit anwesend ist. Auch die Frage "Wauwau wo is?"
kann so als Zweiwortsatz verstanden werden. "Wois",
"dais" und ähnliche Ausdrücke sind noch nicht klar von
Ausdrücken wie "da" oder der bloßen Zeigegeste zu
unterscheiden. Der Übergang von den Zwei- zu den
Dreiwortsätzen ist fließend, und die Frage "Wo is Auto?"
einige Wochen später ist schon erkennbar eine
Dreiwortfrage.
Interessant ist die Funktion des Fragewortes "Wo", das
hier offensichtlich noch nicht klar semantisch von der
Flexionsform "ist" des Verbums getrennt erscheint.
Zweifellos trägt das Bedürfnis des Kindes, Fragen zu
stellen, erheblich zur Entwicklung von Zweiwortsätzen
bei. "Wois" wird im dritten Lebensjahr dann zügig zu "Wo
ist".
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Dreiwortfragen. Was-Fragen. Informationen
WAS DAS
DA? (2-)
Eine Standardfrage der Zeit kurz nach dem
zweiten Geburtstag. Damit fragte sie zunächst
nach Wörtern für Dinge. Sehr zügig dann aber
auch nach weitergehenden Informationen,
Erklärungen - etwa beim Anschauen von
Bilderbüchern oder in Galerien vor einzelnen
Bildern.
Antworten sollten nicht zu ausführlich ausfallen
und der Erwachsene sich stets daran erinnern,
dass es noch ganz einfache Sachverhalte sind,
die das Kind interessieren. Ich erinnere eine
Situation, da fragte sie nach einer Grabgabel.
Den Namen fand sie lustig. Die Erklärung, dass
man damit Erde umgraben kann im Garten, begrüßte
sie interessiert mit "Spielplatz auch!" |
Die formal noch nicht korrekte Frage zeigt ein Wissen
davon, dass sowohl mit Fragewörtern, als auch mit
Wortstellungen Fragen formuliert werden können. Sie
erprobt in dieser Zeit Varianten, z.B. "Das
da was?", "Das da das" und "Was das das?".
Interessanterweise vermeidet sie dabei zunächst das Verb,
obgleich sie schon Ende des zweiten Lebensjahres auf Fragen
nach Dingen, etwa "Wo ist das Bilderbuch?" mit "Da is"
antworten konnte oder mit einem Jahr fragte "Wauwau wois?".
Die Abstraktheit des Verbums "sein" macht offensichtlich
noch Probleme und "da ist" hat noch Züge eines einheitlichen
Ausdrucks mit der Bedeutung "da", ohne Differenzierung in
Verbteil und Lokalbezug.
Der Satz "Was das da?" zeigt bereits einen Dreiwortsatz, der
in nuce ein viertes Wort enthält, nämlich das "ist", also
schon den Weg zum vollständigen Mehrwortsatz weist.
Allerdings begnügen sich viele Kinder im dritten Lebensjahr
noch weitgehend mit den Zwei- und Dreiwortsätzen, auch wenn
sie gegen Ende dieses Lebensjahres oft schon perfekte
Mehrwortsätze formulieren können. Dabei ist zu unterscheiden
zwischen vollständigen Dreiwortsätzen wie etwa "Wer war
das?" und unvollständigen wie in der vorliegenden Frage "Was
das da?".
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Mehrwortsatz. Wer-Fragen. Telefon
WER WAR
DAS? (2-)
Das Telefon hatte geklingelt. Wir sind nicht
rangegangen, da wir gerade beim Essen waren und
das Klingen gleich wieder aufhörte. Da stellte
das Kind die Frage "Wer war das?".
Ich erklärte, dass ich das nicht wissen könne,
da ich ja nicht mit dem Anrufer gesprochen habe.
Sie: "Nochmal anrufen!" Ich stimme zu und
versichere, dass derjenige, der angerufen habe,
bestimmt später nochmal anrufen wird. |
Die Frage sollte in diesem Alter noch öfter kommen, vor
allem beim Klingeln des Telefons (aber auch z.B. bei
Autohupen oder wenn jemand auf der Straße hörbar hustet,
sogar bei Geräuschen, die sie selbst verursacht hat!).
Primär wohl eine von Erwachsenen abgehörte Frage zum Kontext
Telefonieren. Wobei die Erwachsenen erst fragen, nachdem ein
Telefongespräch geführt wurde - aber Kinder üben ja noch.
Wie das Telefonieren funktioniert, versteht das Kind auch
auf der sozialen Ebene noch nicht. Es geht offensichtlich
davon aus, der Erwachsene wisse immer, wer da anruft, auch
vor Gesprächsbeginn. Ich hatte nicht den Eindruck, dass es
dabei Vereinbarungen unterstellt ("Ich rufe dich um X Uhr
an").
Es ist verblüffend, wie rasch das Kind die soziale Funktion
des Telefonierens erfasst hatte und selbst "mitspielen"
wollte durch eine solche Frage. Das Kind ist auch bald
selbst zum Telefon gerannt, wenn es geklingelt hat, auch
wenn es zunächst nur stumm in den Hörer lauschte. Das blieb
so auch noch mit drei Jahren, als die Sprachfertigkeiten
weiter entwickelt waren.
Hilfreich zur Entwicklung des Telefonverständnisses ist es,
dem Kind eine konkrete Telefonsituation auch mit dem
Gegenüber erlebbar zu machen - was dank Handy heute
jederzeit möglich ist, womit das KInd zugleich den sieht,
mit dem es am Telefon spricht. Dazu sollte allerdings
abgewartet werden bis zu einem aktiven Interesse des Kindes
am Telefonieren. Ich persönlich bin darüber hinaus der
Auffassung, man sollte kleine Kinder von Handys und
schnurlosen Festnetztelefonen weitgehend fern halten und
ggf. auf besonders strahlungsarme Geräte zurückgreifen.
Ich nenne dieses Beispiel "Mehrwortsatz" im Unterschied
zum Zweiwortsatz oder dem unechten Dreiwortsatz, in
welchem zwei Wörter semantisch indifferent zu einem
Ausdruck verschmolzen sind. Man könnte auch von einem
"echten Dreiwortsatz" sprechen. Allerdings scheint er
hier reproduziert zu sein aus der Erwachsenensprache.
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Satzfragen. Indirekte Fragen.
Hilfsverbkonstruktion
BIST DU WEGGEGANGEN?
(2)
Ein Ausflug ins Grüne. Ich war ein paar Meter von
der Gruppe weggegangen, das Kind kam mir nach und
stellte diese auf den ersten Blick etwas seltsame
Frage.
Natürlich wäre "Ja, das siehst du doch!" hier eine
unangemessene Antwort. Meine Antwort war "Ja, ich
wollte mal schauen, ob es hier Brombeeren gibt." Es
blieb dann bei mir, plauderte und stellte Fragen zu
den Pflanzen. |
Das Kind übt noch, korrekt zu fragen, auch sind
Wortbedeutungen teilweise noch sehr unsicher, vor allem
im Bereich der Verben, die semantisch weit komplexer
sind als Nomen. Vielleicht erprobte es die Bedeutung von
"weggehen". Vielleicht aber wollte es nur wissen, warum
ich weggegangen bin. Oder es wollte gerne mitgehen,
plaudern. Eine starke soziale, kommunikative Komponente
war gleichfalls zu spüren, als wolle es die Gruppe
zusammenhalten und/oder teilhaben am gerade ablaufenden
Spiel des "Small talking".
Am Besten geben Erwachsene auf solche Fragen eine
Antwort, die freundlich verschiedene Angebote macht.
Zunächst natürlich eine Bestätigung, als Rückmeldung,
dass und wie die Frage korrekt war und verständlich. Und
dann noch eine kleine Erläuterung zum Weggehen, "Ich
wollte mich ein bisschen bewegen" oder auch ein Angebot,
"Ich wollte mal nach dem Baum da drüben schauen, kommst
du mit?". So kann auch der Hintergrund der Frage
eventuell mit dem Kind gemeinsam erschlossen werden.
Sprachlich interessant ist hier die Formulierung einer
Frage durch die Wortstellung. Nach den Fragen mit
Fragewörtern wie "Wo", "Was" und "Wer" kommt es nun
schon im dritten Lebensjahr, auf der Grundlage von
echten Dreiwortsätzen, zu einer Satzfrage. Allerdings
klang die Frage noch "nachahmend", in der Struktur von
Erwachsenen übernommen, instabil, nicht wirklich
verstanden.
Die Hilfsverbkonstruktion wird in diesem Alter natürlich
noch nicht beherrscht. Und der souveräne Einsatz von
Satzfragen, ohne Fragewort, kommt auch erst später, bei
diesem Kind im fünften Lebensjahr - auch wenn vorher
immer wieder einzelne Satzfragen auftauchen.
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Konstatierende Fragen. Zweifel.
Tiersprache
VOGEL MACHT NICHT
MIAU, NEIN? (2)
Die Frage kam an einem Tag mit vielen
Naturerfahrungen, sie probierte z.B. den Geschmack
von aufgeschnittenen Kastanien und Eicheln aus. Auf
dem Weg zum Zoo sahen wir einen Vogel auf dem
Bürgersteig hüpfen und picken. Sie schaut ihm
aufmerksam zu und fragt dann "Vogel macht nicht
'miau', nein?".
Es entwickelt sich ein Gespräch über Tiersprache,
Tierlaute.
|
Sie befand sich gerade in einer Phase der enormen
Ausdehnung ihres Wortschatzes, verbunden damit, dass ihr
immer wieder bereits benutzte Worte entfielen, sie
bekannte Bedeutungen verschob. Ein Haargummi wurde z.B.
am gleichen Tag zu "Zopf". Und so erstaunt es nicht,
dass ihr auch die "Tiersprachen" ungewiss wurden. Wer
macht nun eigentlich "miau" bzw. wie macht ein Vogel?
Verstärkt wurde die Unsicherheit vielleicht auch
dadurch, dass der Vogel nicht flog, sondern wie eine
Katze sich am Boden herumtrieb. Zudem werden in vielen
Bilderbüchern und Geschichten Vögel und Katzen eng
korreliert, etwa in ihrem geliebten "Peter und der
Wolf".
Äußerst interessant ist auch, dass sie gerade in einer
Phase solcher "Wortunsicherheiten" eine derart komplex
gebaute Fragestellung vorträgt, mit rhetorischer
Selbst-Antwort! Es ist gerade die Entwicklung
sprachlicher Komplexität, die mit bedingt, dass sie
bereits Bekanntes wieder "vergisst" bzw. unsicher darin
wird.
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Ellipse. Essen. Soziale Kontrolle.
Kommunion
WILL(ST) DU (AUCH)?
(2)
Klara aß Trauben frisch vom Weinberg. Sie hatte
einen Korb mit mehreren Trauben ("Henkeln") vor sich
und wählte zielsicher die größte aus und beschloss
pausbäckig "alle aufessen!". Dennoch hielt sie mir
dann nach den ersten paar Beeren den Henkel hin und
fragte, kauend, "WILL(ST) DU?" mit einem
geschnodderten "AUCH" dahinter.
Ich verneinte, aber da hatte sie den Henkel ohnedies
schon wieder an sich genommen. Die Frage war eher
eine Form der Kontaktaufnahme, sie wollte zeigen,
was sie da hat, so schien es mir. |
Es geschieht häufig in diesem Alter (und oft auch
schon davor), dass die Kinder etwas von ihrem Essen
anbieten, dem Erwachsenen entgegenstrecken oder auch
direkt zum Mund führen. Meist wird das Angebotene jedoch
so rasch wieder zurückgezogen, wie es hingehalten wird.
Die Bedeutung dieses Aktes habe ich lange nicht
verstanden, bis ich einmal sah, wie Klara ihre Puppe
"fütterte" und dabei das Essen zwischen ihrem eigenen
Mund und dem der Puppe hin und her bewegte.
Hier würde ich in der Tat etwas von magischen
Vorstellungen wirksam sehen im Sinne einer noch unklaren
Subjekt-Subjekt- bzw. Subjekt-Objekt-Beziehung. Eine Art
von Kommunion, gemeinsamem Mahl. Wobei sie mich
einbezieht, indem sie das Essen mir kurz reicht/zeigt -
um dann aber selbst zu essen, jedoch möglicherweise im
Einverständnis, der andere esse mit.
Sicherlich ist auch die Erfahrung mit dem eigenen
Gefüttertwerden hier mit beteiligt. Viele Erwachsene
nehmen dabei ja gelegentlich einen Löffel für das Baby
erst selbst in den Mund, um die Temperatur zu prüfen,
die Portion mundgerechter zu machen, die Esslust des
Babys zu stimulieren, die Mundflora zu übertragen oder
noch aus anderen Gründen.
Sprachlich ist die Frage interessant durch ihre,
wenngleich nur geschnodderte, Verberweiterung mit dem
Modaladverb "auch". Es bedeutet einen gewaltigen Schritt
in der Entwicklung des Kleinkindes, wenn es beginnt,
eigenschöpferisch, spontan initiativ, Modalwörter
einzusetzen. Zu erwarten ist dies bei den Modalwörtern
im engeren Sinne wie "vielleicht", "wahrscheinlich" etc.
erst um den 3. Geburtstag.
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Mehrwortfragen. Empathie. Orte. Soziale
Verhältnisse
WO SCHLÄFT DER MANN?
(2+)
Klara sieht einen Bettler. Sie will wissen, warum
der da mit vielen Plastiktüten auf dem Boden sitzt
und einen Becher mit Münzen vor sich hat. Nach einer
Erklärung von mir, dass er arm sei und keine Wohnung
habe, will sie wissen "Wo schläft der Mann?"
Ich sage ihr, dass es Häuser gibt, wo arme Menschen
schlafen können. Stunden später, als wir vor dem
Haus stehen, in welchem Klara mit ihren Eltern
wohnt, meint sie: "Da ist Wohnung. Da kann Mann
schlafen!" |
Ihre Frage bekundet Anteilnahme und Mitleid, die sich auch
in Stimme und Mimik zeigen. Sie versteht, dass bestimmte
Dinge wie Essen und Wohnung keineswegs selbstverständlich
sind. Und sie ahnt etwas von den Privilegien, an denen sie
Anteil hat. Ahnt etwas von sozialen Differenzen. Das Thema
"Wohnen" ist in dieser Zeit sehr wichtig, draußen spielt sie
gerne "das ist jetzt unser Haus!", in der Wohnung baut sie
gelegentlich erste Unterschlüpfe (unter Stühlen, Tischen,
Decken). Innerhalb der Sprachentwicklung zeigt
diese Frage einen ganz entscheidenden Entwicklungsschritt
hin zur vollständigen sprachlichen Explikation. Fragewort
und Verb sind vollständig getrennt und das Kind setzt auch
bereits einen Artikel ein. Das nachfolgende Gespräch zeigt
allerdings mit Sätzen wie "Da ist Wohnung", dass auch
erfolgreich mit sparsameren Mitteln kommuniziert werden kann
und das Kind davon gerne Gebrauch macht.
Später mit Fünf werden die Themen Betteln und
Obdachlosigkeit erneut wichtig. Dann will sie mehr
Details wissen, fürchtet, die Mama könne zur Bettlerin
werden, wenn sie große Einkäufe macht, ermahnt
Erwachsene gelegentlich, nicht so viel Geld auszugeben.
Sie entwickelt dann, mit Fünf, auch einen Begriff von
"mein Haus" und achtet ihr Zimmer mehr, räumt auf, baut
nun ausdrücklich Hütten in der Wohnung, ein Haus im
Haus. Dann ist auch bald die Rede von "schönem" Haus,
wobei meist groß und geräumig gemeint ist. Wie im
Englischen sind dabei "Haus" und "Wohnung" nicht klar
getrennt.
Mit Neun lese ich ihr "Prinz und Bettelknabe" von Marc
Twain vor. Trotz der oft langatmigen Schilderungen und
der gewundenen Sprache bleibt sie bis zum Schluss
interessiert, gerade auch am Thema der Armut.
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Bewusstsein der eigenen Entwicklung.
Rollenübernahme
WIE
MACHT EIN BABY? (2+)
Sie spielt "Baby", kommt an den Spiegel im Flur,
der bis zum Boden reicht, möchte wissen, wie ein
Baby sich verhält, wenn es in einen Spiegel
schaut.
Ich mache ihr kurz vor, wie ein Baby nach seinem
Spiegelbild tastet. Erkläre ihr dann, dass Babys
manchmal meinen, das im Spiegel sei ein anderes
Baby. Dass sie aber schnell lernen, dass sie das
selber sind. |
In diesem Alter des
definitiven Abschieds vom Babysein spielt sie häufig
Baby, ahmt deren Hilflosigkeit, das Brabbeln und
Quengeln gekonnt nach, aber auch das freudige
Strahlen, Lachen oder den tapsigen Umgang mit Dingen.
Ob es an ihrer noch unausgereiften Mimik liegt oder an
einer absichtlichen Tendenz, die "Unfertigkeit" von
Babys zu überzeichnen, kann ich nicht entscheiden:
Aber ihre Babys muten bisweilen fast wie Karikaturen
an. Sie überzeichnet das Babyhafte, möglicherweise zur
Abgrenzung, vielleicht aber auch einfach aus erster
"theatralischer" Spiellust.
Offensichtlich verarbeitet sie mit ihrem
Babyspiel die Umbruchsituation dieses Alters. Sie ist
noch nicht "groß", ist beim Spielen noch stark
eingeschränkt, auch beim Sprechen noch weit von den
Erwachsenen oder großen Kindern entfernt - aber auch
fern nun der Babywelt mit ihrem Versorgtsein und
Umsorgtsein. Dem "ich bin kein Baby mehr"
korresponiert nun ein weiterführendes "ich kann Baby
spielen". Ein weiteres Spiel der Zeit ist, sich ein
Kissen oder eine Puppe unter den Pulli zu schieben und
zu sagen "ich hab ein Baby im Bauch". Womit sie die
Zugehörigkeit zur "Erwachsenenwelt" zumindest
spielerisch für sich reklamiert - aber auch die Themen
Schwangerschaft und "Wo komme ich her" für sich
bearbeitet.
Das Fragenmodell "Wie macht ....?" verweist
darüber hinaus auch grundsätzlich auf die Fähigkeiten,
nun Rollen zu übernehmen, zu sich in Distanz gehen zu
können und sich in andere hinein zu versetzen,
versetzen zu wollen. Dass diese Fähigkeiten sich in
der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, der
eigenen Vergangenheit als Baby artikulieren, scheint
mir ein Hinweis darauf, dass eine wichtige
Voraussetzung für Rollenübernahme und damit auch
Empathie die Einsicht ist, selbst in anderen Rollen
schon gelebt zu haben. Verblüffend in seiner
Stimmigkeit ist, dass das Kind dieses Thema hier
gerade am eigenen Spiegelbild bearbeitet.
Zum Bezug von Identität und Rollenübernahme
siehe George Herbert Mead 1934. Die Rolle des
Spiegelbildes in der Identitätskonstruktion hat
Jacques Lacan herausgearbeitet.
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Weltwissen. Begriffssystem.
Text-Bild-Beziehung
WAS IST DAS? (2+)
Die Frage ist, wie oft in diesem Alter, verbunden
mit einer Zeigegeste. Klara zeigt auf eine
Bildpostkarte mit einem interessanten Fisch.
Meine erste Antwort, "ein Fisch", befriedigt sie
nicht: "Nein, was für ein Fisch!". Ich lese von der
Rückseite der Karte vor: "Rotfeuerfisch". Diese
Antwort gefällt ihr. |
Die Fragen von Klara in diesem Alter sind oft
rudimentär, knapp, nur im Kontext zu erschließen, oft
durch Gesten unterstützt. Sie will auch schon häufig
vorgelesen bekommen, was auf Erklärungstafeln steht oder
wie bei diesem Beispiel die Erläuterung zu einem Bild.
Insofern gehört diese Frage hier auch in den Kontext der
Frage "Was steht da?".
Sie begnügt sich in den Antworten auf Fragen, den
Erklärungen zu Bilderbüchern etc. nicht mehr mit
einfachen Kategorien wie "Fisch", "Baum" etc., will
Differenzen kennen lernen, spezifische Bezeichnungen,
Namen. Dabei spielt das Fragemodell "Was für ein ...?"
zunächst noch eine Nebenrolle. Obgleich die
Frageintention nun schon auf Feindifferenzierungen geht,
ist das mentale Begriffssystem wenig hierarchisiert,
weshalb ihr die Frage "Was ist das?" offenkundig noch
ausreichend scheint.
Auffallend für die sprachliche Entwicklung ist hier,
dass die Bildung der Frage "Was für ein Fisch ist das?"
kognitiv bereits möglich ist, aber erst auf einen
konkreten Bedarf hin aktiviert wird! Insofern ist ein
etwas unaufmerksamer (oder auch bewußt herausfordernder)
Gesprächspartner hier ganz hilfreich, die
Sprachaktivität des Kindes voranzubringen. Wäre die
Reaktion gleich gewesen "ein Rotfeuerfisch", hätte das
Kind die schlichte Frage "Was ist das?" als zielführend
bestätigt gesehen.
Oft sind solche schlichten Frageformen allerdings
durchaus zielführend, auch für Erwachsene. Wir
explizieren unsere Frageintentionen sehr häufig nicht,
verlassen uns auf die Kontextdetermination. Und Kinder
nehmen das natürlich auch wahr - wir sollten also nicht
vom Kind eine Ausdrücklichkeit erwarten, die wir selbst
oft nicht leisten!
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Tierwelt. Tier-Mensch
WO SCHLAFEN DIE
FLAMINGOS? (2+)
Die Frage fällt im Zoo. Klara sieht, dass einige
Flamingos mit geschlossenen Augen auf einem Bein
stehen, kann aber nicht glauben, dass die so auch
schlafen.
Eine Frage, die Lexikonwissen erfordert, denn es
geht hier darum, ob Flamingos auch in einer Art Bett
schlafen oder sich auf den Boden legen. Und ob sie
alle zusammen schlafen oder alleine. Die korrekte
Antwort ist, dass Flamingos in der Tat im Stehen
schlafen, in der Gruppe. Meist auf einem Bein, das
allerdings gelegentlich gewechselt wird. |
Die Frage gehört in den
Kontext vieler Fragen dieser Zeit, die auf eine
Vertiefung des Weltwissens abzielen. Das Kind
beobachtet und möchte vor allem Aufklärung bei
irritierenden Beobachtungen, die mit dem eigenen
Erfahrungwissen nicht erklärt werden können. Von
Bauernhöfen weiß Klara schon, wo und wie Kühe und
Pferde schlafen. Aber Flamingos? "Haben die ein Bett?"
spekuliert sie, und "schlafen die alle in einem Raum?"
will sie wissen.
Offenkundig erhofft Klara sich von Antworten
auf Fragen in der Tierwelt auch Einsichten in das
Zusammenleben von Menschen. So will sie im Zoo bei den
Seelöwen auch wissen "Warum ärgert der große Seelöwe
die kleinen?" - wobei es sich beim "großen" um das
Männchen handelte. Sie reflektiert hier erkennbar auch
eigene soziale Erfahrungen, denn einige Zeit davor,
beim Abholen vom Kindergarten, hat sie sich darüber
beschwert, dass "die Großen" wieder mal "die Kleinen"
geärgert haben.
Bezugspersonen können an dem, was Kinder bei
Tieren besonders interessiert, auch Themen erkennen,
die das Kind im eigenen Lebensumfeld beschäftigen.
Aber Vorsicht mit allzu schlichten und direkten
Übertragungen! Und es sollte dem Kind überlassen
bleiben, eventuell im Futterneid bei Tieren an das
Gerangel von Kindern um Süßigkeiten zu denken. Ein
offenes Ohr und Rückfragen beim Kind sind sicherlich
hilfreicher als vorschnelle Analogiebildungen durch
die Erwachsenen.
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Empathie. Kausalitäten. Bilderverständnis
WAS IST DA PASSIERT?
(2+)
Wir waren in der Städtischen Galerie und standen
(wieder einmal) vor einem Bild, das ein ärmlich
gekleidetes frierendes Mädchen im Winter zeigt.
Frühere Kommentare von Klara zu diesem Bild waren
"Aua", dann "Mädchen weint!". Nun will sie wissen
"Was ist da passiert?"
Die Frage erlaubt schon Antworten, die ein Bild
"interpretieren", Vermutungen äußern. Ich habe das
Thema "Armut" angesprochen, auch angesprochen, aus
welcher Zeit das Bild ist, welche gesellschaftlichen
Bedingungen herrschten. |
Die Frage zeigt schon ein Denken in Zusammenhängen,
Ursache-Wirkungs-Beziehungen (Vorbereitung auf
Warum-Fragen). Das Kind begreift nun auch den Verweis- und
Bericht-Charakter von Bildern, dass die etwas dokumentieren,
das es zu erschließen gilt. Zumindest im Alltagsgebrauch,
Zeitungsbilder etwa. Für die meisten Bilder eines
Kunstmuseums ist diese Frage natürlich "laienhaft" - und
sehr zügig begriff das Kind in der Folgezeit dann auch, dass
Kunstbilder eher selten etwas zeigen, das auf ein Geschehen
verweist. Und fand das oft dann "langweilig".
Im Alter von Zwei und Drei ging Klara sehr gerne in
Kunstmuseen und Ausstellung. Das hat sich dann verloren -
bis hin zur vorbeugenden Erklärung beim Abholen vom
Kindergarten "Ich will aber heute nicht ins Museum!". Zoo
und Spielplatz haben das Museum als Attraktor abgelöst, etwa
gleichzeitig wurde das Naturkundemuseum attraktiv - auch im
Blick auf Ausdifferenzierung der Welt, etwa mit dem
Interesse, welche verschiedenen Tiere, welche verschiedenen
Fische gibt es. Erst mit Sechs wurden auch Kunstmuseen
wieder interessanter. Unter der Voraussetzung, dass es da
"etwas für Kinder" gab. Wobei "für Kinder" auf Nachfrage
bedeutete: "mit Tieren", "was Lustiges".
Die hier vorgestellte Frage folgt dem Muster der Fragen von
Erwachsenen, wenn es z.B. Streit bei Kindern gab und ein
Kind weint, "was ist da passiert?". Diese Frage ist auch der
Einstieg in Vermutungen, Spekulationen; "vielleicht" und
andere Modalwörter tauchen nun tastend im Sprachschatz des
Kindes auf. Damit werden auch kleine "spannende" Geschichten
interessant, in denen es "Geheimnisse" gibt, die allerdings
noch möglichst zügig aufgeklärt werden müssen.
|
Gegensatzpaare. Objektivität
WO IST GROßER BUS?
(2+)
Wir sind im Auto unterwegs. Ein VW-Bus fährt vorbei
und ihr Kommentar ist: "Kleiner Bus!" Gleich
anschließend fragt sie "Wo ist großer Bus?"
Ich erkläre ihr, dass wir am Bahnhof gewiss einen
großen Bus sehen werden, da dort viele Leute Bus
fahren wollen. Dass der "kleine Bus" aber nicht für
alle Leute sei, sondern nur für die Leute, denen der
Bus gehöre, wie ein Auto auch. |
Für mich bleibt unklar, ob sie Größenverhältnisse
lernen wollte - also ab wann ein Bus "groß" sei, und
wann "klein". Oder ob sie einfach nur Lust hatte, einen
großen ('richtigen') Bus zu sehen, weil der "kleine" für
sie uninteressant war. Oder vollzog sie da eine
Analogiebildung zu ihrer kindlichen Erfahrungswelt, dass
bei einem "Kleinen" immer auch ein "Großer" in der Nähe
sein müsse?
Sie hatte in diesem Alter die Begriffe von "groß" und
"klein" durchaus bereits erfasst, erklärte öfter mal,
sie sei "schon groß", also "kein Baby mehr". Aber sie
erfuhr auch, dass Erwachsene gelegentlich dieses ihr
"groß sein" anzweifelten. Mit der Frage nach dem
"großen" Bus könnte auch ein erstes Bedürfnis nach
"objektiven" Kategorien verbunden gewesen sein - also
implizite die Frage, ab wann ein Bus "groß" zu nennen
sei.
Das Kind lernt "groß" und "klein" zunächst einmal in
Verhältnissen. Deshalb kann es auch von sich so forsch
behaupten, es sei "schon groß". Im Verhältnis zu einem
Säugling ist das durchaus korrekt. Solch ein direktes
Vergleichsverhältnis scheint es sich mit dieser Frage
auch für die Größe von Bussen zu wünschen.
Womit wir uns mitten in einer philosophischen
Fragestellung zur Objektivität
qualifizierend-relationaler Quantitätsangaben befinden.
Was bedeuten "groß", "klein", "viel", "wenig", "schwer",
"leicht" und ähnliche Kategorien? Auch Erwachsenen
gelingt es oft nicht, hier eine klare intersubjektive
Übereinstimmung zu finden.
Die schlichte Frage "Wo ist großer Bus?" verweist uns
darauf, dass auch ein zweijähriges Kind von der
Problematik schon eine Ahnung haben kann, die weit über
die Zweifel von Erwachsenen an seinem "schon groß sein"
hinausreicht.
|
Lesekompetenz
WAS STEHT DA? (2+)
Erstmals stellte Klara diese Frage vor einer
Hausnummer, dann vor Straßenschildern und anderen
Schildern im öffentlichen Raum, dann zu Etiketten
auf Lebensmittelpackungen. Also da, wo auch
Touristen in einem fremdsprachigen Land anfangen mit
der Orientierung.
Ich habe sie dann vor allem auf Zahlen und
Buchstaben aufmerksam gemacht, mit denen sie schon
eine Verbindung hatte, also etwa die "2", weil sie
so alt war, oder die Buchstaben aus ihrem Namen. |
Die Frage "WAS STEHT DA?" ist eine der wichtigsten
Fragen, um Schreiben und Lesen zu lernen. Gestellt wird
sie lange ehe das Kind von seiner Entwicklung her in der
Lage ist, Lesen zu lernen. Doch sie ist hilfreich, weil
sie die Motivation, Schreiben und Lesen zu lernen, früh
weckt und erhält. Die Frage zeigt, dass das Kind Schrift
als etwas begreift, das uns hilft, die Umwelt zu
verstehen, uns zu orientieren. Schrift löst sich nun aus
dem Kontext des ersten häuslichen Kennenlernens, aus
(Bilder-, Lieder-)Büchern, Zeitungen und sonstigem
bedrucktem Papier im Haushalt. Sie wird für das Kind als
etwas bedeutsam, dass zur Orientierung draußen hilfreich
ist.
Mit Vier erklärte Klara dann vorzugsweise an
Straßenschildern und Info-Tafeln an Häusern
(Arztschilder, Namen von Institutionen etc.), dass sie
das lesen könne. Wobei sie in der Regel auswendig
Gelerntes wiederholte. Zahlen konnte sie allerdings nun
schon häufig richtig erkennen. Und "ihren" Buchstaben,
den ersten ihres Namens, das "K", identifizierte sie in
verschiedenen Schreibweisen.
Wichtig ist in dieser Phase einmal, auf die Funktion der
Schrift im Außenbereich aufmerksam zu machen. Zahlen und
Schrift im Außenbereich sind durch ein extremes Spektrum
an Gestaltungsmöglichkeiten geprägt, von riesigen,
dekorativen Werbeschriften bis zur Kleinschrift an
Klingelknöpfen. Um die Identifikation von Zahlen und
Buchstaben unter diesen verschiedenen Schreib- und
Gestaltungsweisen dem Kind überhaupt erst zu
ermöglichen, ist die Beschränkung auf wenige Zeichen
sinnvoll. Dabei bieten sich die Buchstaben des
Kindernamens an, sein Alter, die eigene Hausnummer und
Ähnliches.
|
Zweifelfragen. Wortschatzerwerb.
Eindeutigkeit. Konventionen
PAPA, DAS IST
KEINE TASSE, ODER? (2+)
Ich bin zu Besuch bei Klara und ihren Eltern.
Ich bezeichne eine Teeschale als Tasse. Klara
wendet sich an ihren Vater: "Papa, das ist keine
Tasse, oder?".
Der Papa ist diplomatisch und erklärt, dass man
zu einer Schale, aus der man Tee trinkt, auch
Tasse sagen könne. Und er fügt hinzu, dass die
Untertasse ja auch keinen Henkel habe. Klara:
"Aber wir sagen Schale, oder?" Das bestätigt der
Vater und damit ist das Kind zufrieden. |
Natürlich wäre es unangemessen, dem Kind hier die
Etymologie von "Tasse" aus dem arabischen Wort für
Schälchen/Napf zu erklären. Worum es geht ist die
Verlässlichkeit der (Sprach-)Welt. In diesem Alter
genießen die Eltern in der Regel noch unumschränkte
Autoriät. "Der Papa hat aber gesagt" oder "die Mama
hat aber gesagt" sind nun häufige Ausdrücke. Und
diese Autorität spiegelt sich auch in der
Sprachwelt.
Es ist dies auch die Phase, in der Kinder (nicht
alle und nicht alle im gleichen Maße) darauf
beharren, eine Geschichte immer wieder im exakt
gleichen Wortlaut vorgelesen zu bekommen, ohne
Abkürzungen oder Variationen durch die Erwachsenen.
"Die Mama erzählt die Geschichte aber ganz anders!"
Es wäre in solch einer Situation wenig angemessen,
würden Oma, Opa, Erzieherin, Tageseltern nun ihre
eigene Bezeichnung "verteidigen". Das "wir sagen so"
ist dem Kind unbedingt zuzugestehen und es zeigt ja
auch, dass es bereits in der Lage ist,
unterschiedliche Sprachgewohnheiten und
Bezeichnungsweisen zu erkennen.
Interessant auch eine ähnliche Situation in diesem
Alter um den dritten Geburtstag. Ich bin mit ihr im
Zoo und eine ältere Dame sagt: "Das ist aber eine
Süße!" Klara darauf: "Ich bin keine Süße! Zucker ist
süß!" Sprache muss klar sein, eineindeutig, da ist
(noch) kein Platz für Metaphern - und schon gar
nicht für eine, die das Kind als beleidigend
empfindet ("ich bin kein Baby mehr!"). Mit sechs
sollte sie dann selber häufig etwas "süß" finden,
insbesonders kleine Tiere. Und spätestens zu Beginn
der Gymnasialzeit dann auch kleine Kinder.
|
Satzfragen mit Nebensatz. Ich-Entwicklung.
Perspektivwechsel. Arbeit
WEIßT DU, WAS ICH
SCHON GEARBEITET HABE? (2+)
Wir sind auf einem Spielgelände, sie beschäftigt
sich alleine und kommt dann gerannt mit dieser
Frage.
Auf mein "Nein"als Antwort erklärt mir das Kind:
"Ich hab Erde gegraben!" |
Inhaltlich ist die Frage insofern besonders
interessant, als das Kind nun sich selbst gleichsam über
den Erwachsenen befragt, einen doppelten
Perspektivwechsel im Fragen vornimmt. Einmal will es
etwas über die Gedanken, das Wissen des Erwachsenen
erfragen. Zum anderen will es dabei etwas erfragen, was
mit ihm selbst zu tun hat.
Fragen wie diese kennzeichnen die Entdeckung der eigenen
Persönlichkeit. Sie treten auf in einem Alter, das den
Unterschied zwischen Spiel und Ernst entdeckt, das im Spiel
nun auch bewusste und verfügte Rollenübernahmen kennt und
z.B. nicht mehr abwehrt, wenn der Erwachsene mit verstellter
Stimme spricht, sondern dies vom Erwachsenen sogar explizit
fordert (z.B. für den Frosch zu sprechen).
Der um den dritten Geburtstag gehäuft auftretende
Fragentypus macht im Vergleich mit Fragen der Folgezeit
deutlich, wie die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten
nicht-linear verläuft. Fragen wie die zitierte (und etwa die
nachfolgende) sind von einer Komplexität, die in den
folgenden zwei Jahren scheinbar verlorengeht. Erst mit Fünf
erscheinen äußerlich ähnlich gebaute Fragen wieder gehäuft.
Die Kompexität der ersten Phase scheint instabil, von
abgehörten Mustern geprägt, nur halb verstanden.
Zwei Erklärungsmodelle bieten sich an: Dass die Komplexität
der Fragen um den dritten Geburtstag herum wieder verloren
geht durch die Verlagerung der Entwicklung auf andere
Bereiche - und dann später neu gewonnen wird. Oder aber: die
Komplexität kehrt auf einer gehaltvolleren Ebene wieder,
gleichsam eine Spiralwendung höher - um ein Entwicklungsbild
aus der Philosophie zu zitieren.
Die Frage ist auch bemerkenswert durch die Thematisierung
von Arbeit. Dass der Mensch erst durch Arbeit zum Individuum
wird, sich selbst verwirklicht, ist eine tradierte
christlich-protestantische Überzeugung, wenn wir Max Weber
folgen. Das Kind "spielt" diese Konzeption hier nach, in der
Trias von "Ich", "Du" und "Arbeit. Sein Vorbild ist die
Bedeutung der Arbeit in seiner eigenen Familie, mit zwei
berufstätigen Elternteilen.
Im Blick auf die Sprachentwicklung fällt hier natürlich die
perfekte Nebensatzkonstruktion auf. Sie folgt einem gängigen
Muster, das dem Kind oft begegnet, einem Fragemodell, mit
dem Erwachsene sich auch oft an das Kind wenden. Auch hier
drängt sich wieder der Eindruck auf, dass es gerade Fragen
sind, die die Sprachentwicklung vorantreiben.
|
Ich-Entwicklung. Sammeln. Verstecken
WAS HAB ICH IN MEINER
TASCHE VERSTECKT? (2+)
Bei einem Ausflug strolcht das Kind herum, kommt
dann zum Erwachsenen mit dieser Frage.
Der Erwachsene rät herum und nennt Dinge, die man
draußen in der Natur sammeln kann, ein
Holzstückchen, ein Blatt, eine Eichel, eine
Kastanie, ein Bonbonpapier, einen Stein. Bei "Stein"
jauchzt das Kind auf und zieht einen glatten, runden
Kieselstein heraus. |
Für diese Frage gilt Ähnliches wie für die
vorangegangene Frage zur "Arbeit". Sie folgt dem Modell
einer Befragung des Anderen über das Eigene. Und sie
thematisiert die Weltaneignung durch das Kind, nun durch
"Sammeln". Es ist das Alter, in welchem die Taschen
allmählich sich füllen mit Holzstücken, Steinen,
Muscheln, Bonbonpapieren und Ähnlichem.
Ich nenne diese Zeit das kindliche Barock. Im Barock
entstanden an den Höfen seltsame Kuriositätenkabinette,
erste naturhistorische Sammlungen, die weniger
historisch, eher allegorisch angelegt waren und die
Varianz des immer Ähnlichen (z.B. Vogelfedern oder
Geweihe) sowie den Reiz der Seltsamkeit (z.B. Exotika,
Mißbildungen) über die innere Struktur und die
kontextuelle Beziehung stellten. Die besondere
Verfasstheit dieses kindlichen "Zeitalters" zeigt sich
auch an Fragen wie "Wer mag alles Regenwürmer?", die ich
einige Positionen weiter unten noch erörtere. Das Kind
bildet Gruppen, Mengen, die durch sehr eigenwillige
Kriterien zusammengehalten werden, die etwa bei Bergen
weitgehend identischer Muscheln oder Kieselsteine dem
Erwachsenen nicht unbedingt einleuchten. Für die Kinder
sind sie nicht identisch (streng logisch ja auch nicht),
jeder/jede ist ein Individuum.
Dass im Fragebeispiel ein Kieselstein relevantes Objekt
ist, muss nicht erstaunen. Die Sammelleidenschaft von
Kindern beginnt mit Naturobjekten und Steine spielen
dabei eine besondere Rolle. Etwas von diesem Reiz bleibt
auch Erwachsenen erhalten, denken wir an Spielsteine und
Roulettchips, Glückssteine und magische Steine gegen
jede Art von Krankheit. Oder Edelsteine. Drei
umgangssprachliche Ausdrücke für Geld - Stein, Kies und
Schotter - seien der Vollständigkeit halber auch
erinnert.
Dass es hier in der Frage um "Verstecken" geht, verweist
auf das nun erwachende Interesse von Kindern am
Geheimnis, verweist auf die Fähigkeit, sich selbst auch
abzugrenzen, etwas den anderen zu entziehen, auch sich
selbst zu verstecken - und ersten "Besitz" beiseite zu
nehmen. "Meine Schaufel!" wird nun zum ernsten Thema und
"Verstecken" zu einem noch lange beliebten Spiel.
|
Aushandlungsprozesse. Zeiterfahrung.
Langeweile
WAS MACHEN WIR JETZT?
(3-)
Die Frage "Was machen wir jetzt?" kam in diesem
Alter öfter. Eine Situation, an die ich mich
erinnere, war ein Nachmittag, an dem ich mit dem
Kind allein war und wir schon einige Dinge getan
hatten, die das Kind wollte, einige, die ich
vorgeschlagen habe. Zuletzt hatten wir gereimt, aber
das schien das Kind bald zu ermüden. Dann kam die
Frage.
Meine Reaktion war, zurückzufragen, was das Kind tun
möchte. "Weiß nicht." Ich schlug Malen vor, was kein
grandioser Vorschlag war, aber begeistert angenommen
wurde. |
Bei Kindern in diesem Alter bin ich oft
verblüfft, wie eng überschäumende Aktivitäten mit
Momenten einer vollkommenen Ideenlosigkeit, fast
Antriebslosigkeit abwechseln. Und ich denke dabei an die
etwas bissige Anekdote der 70er Jahre mit Kindern, die
im antiautoritären Kinderladen fragen: "Müssen wir heute
wieder tun, wozu wir Lust haben?"
Etwa zeitgleich mit dieser Frage tauchen erstmals
Aussagen auf wie "mir ist langweilig" oder "das ist
langweilig" - eine notwendige Erfahrung in der
Entwicklung des Zeitempfindens, die das Kind dabei
macht.
In diesen Kontext gehört auch der nun häufiger
auftretende Wunsch, selbst zu "bestimmen" - etwa über
die Kleidung. Insofern verweist die Frage auf einen
Reifungsprozess, der das gemeinsame Aushandeln von
Aktivitäten, Verhaltensweisen, Entscheidungen
ermöglicht. Auch wenn das Kind hier keinen eigenen
Vorschlag einbringt und es noch ein langer Prozess ist,
der bis in die Schulzeit hineinragt, ehe das Kind auch
Ergebnisse akzeptieren kann, die seinen eigenen
momentanen Bedürfnissen nicht entsprechen.
Die Frage könnte allerdings auch darauf hinweisen, dass
ein Kind stark auf Erwachsene hin oder auf Kindergruppen
hin orientiert ist und vielleicht Probleme damit hat,
sich selbst zu beschäftigen. Es lohnt sich, bei dieser
Frage zu schauen, was das Kind damit verbindet. Sie
sollte auch dazu anregen, über die eigene Rolle als
Erwachsener nachzudenken: Spiele ich den
Alleinunterhalter?
|
Sprachritual. Sozialgefüge.
Kontaktaufnahme
WIE HEIßT DU? (3-)
Eine Frage, die Klara mit Anfang Drei gelegentlich
gehäuft in der Bahn oder bei Veranstaltungen
Menschen stellte, zu denen es keine Kontakte gab, zu
denen sie einfach mit ihrer Frage hinging.
Gelegentlich ließ ich sie gewähren, wenn ich den
Eindruck hatte, dass die Leute sich nicht belästigt
fühlten. Gelegentlich bremste ich sie. Das Verhalten
verlor sich jedoch so rasch wieder wie es gekommen
war. |
Bei
Personen, die einen direkten Kontakt mit ihren Eltern
hatten, stellte Klara die Frage auffallend selten. Bei
Fremden schien sie das mehr zu interessieren. Später kam die
Frage nur noch gelegentlich bei Leuten, mit denen es einen
persönlichen Kontakt gab.
Kinder hatten in weniger individualisierten
Gesellschaften eine wichtige Funktion für den sozialen
Zusammenhalt der Gruppe, Sippe, Familie. Die letztlich
an alle gerade Anwesenden gestellte Frage "WIE HEIßT
DU?" offenbart ein wesentliches Moment dieser Funktion.
Gelegentlich konnte ich auch ein Verhalten beobachten,
wie es von Schäferhunden bekannt ist, die eine Gruppe
von Menschen zusammenzuhalten suchen, indem sie zu jedem
immer wieder kurzen Kontakt aufnehmen, und sei es nur
durch Vorbeigehen, mal am Ende der Gruppe, mal ganz
vorne.
Im Alter von Fünf berichtet sie mir mit kritischem
Unterton, dass Kinder sie immer nach ihrem Namen fragen
auf dem Spielplatz. Mir war bereits aufgefallen, dass
sie auf diese Frage, auch von Erwachsenen im
Kontaktumfeld (Mütter anderer Kinder z.B.), oft
befremdet reagiert und nicht antwortet. Auf meine Frage,
warum sie die Frage nicht mag, antwortet sie einmal "ich
kenn die doch gar nicht", ein andermal "manchmal hab ich
einfach keine Lust!". Dahinter könnte auch die
Erinnerung an das Befremden mancher Erwachsener stehen,
als sie diese Frage mit drei Jahren häufig stellte.
|
Wissensorganisation. Tiere. Nahrung.
Gruppenbildung
WER MAG ALLES
REGENWÜRMER? (3-)
Die Frage stellt Klara, als wir eine Amsel beim
Picken auf einer Wiese beobachten und ich
erkläre, dass die Regenwürmer suche, weil sie
Regenwürmer mag. Das Thema, was Tiere fressen,
interessiert sie schon seit einiger Zeit und sie
fragt nun "Wer mag alles Regenwürmer?".
Ich zähle einige auf, komme auch zum Igel. Da
will sie wissen, was der Igel sonst noch isst.
Ich erkläre, dass er fast alles frisst, was von
der Größe her passt, kleine Tiere und Beeren und
Körner, dass Igel Allesfresser seien. Da lacht
sie und schüttelt den Kopf. Ich frage, warum sie
lache, sie antwortet: "Allesfresser, das ist
lustig!" |
Die Frage stammt aus dem Bereich des gemeinsamen
Essens - im Kindergarten oder bei Familientreffen. Da
wird von Erwachsenen bisweilen gefragt "Wer mag alles
Salat?" oder ähnlich.
Diese Frage zeigt das Bedürfnis, Wissen zu
systematisieren und innerhalb des zunehmend komplexer
werdenden Tierreiches im Kopf des Kindes eine eigene
Ordnung zu finden, die dem Kind näher liegt als die
Einteilung in Vögel, Fische, Landtiere. Mit Fünf tauchte
die Frage beim gleichen Kind auf im Kontext "süß". Wir
hatten Ameisen beobachtet, ich erzählte dem Kind von
meinem Ärger mit Ameisen, die meine Feigen auffressen,
"weil sie süß so mögen". Da fragte das Kind "Wer mag
sonst noch süß?".
Diese Einteilungskategorie ("alle Tiere, die X mögen")
erinnert an barocke Kuriositätenkabinette oder die
"gewisse chinesische Enzyklopädie" des Jorge Luis Borges
mit ihren Kategorien zur Einteilung des Tierreiches -
etwa "Tiere, die dem Kaiser gehören".
Im Alter von gerade Zwei hat das Kind bei Pinguinen im
Zoo und Eidechsen auf einer Trockenmauer wissen wollen,
was die essen. Mit den Antworten "Fisch" bzw. "Würmer
und Schnecken" war sie damals nicht zufrieden. Sie
wollte denen eher "Steine" (lassen sich so schön ins
Wasser werfen), "Blätter", "Waffeln" (hatte sie gerade
selber gegessen) und "Apfel" vorschlagen - und am
liebsten ihnen auch selbst anbieten, sie füttern. Dass
Tiere andere Tiere essen, war und blieb ihr eine
unbehagliche Vorstellung.
|
Satzfragen mit Nebensatz. Statische Welt.
Analogiebildungen
TUT ES WEH, WENN DIE
HAARE WACHSEN? (3-)
Die Frage stellte Klara, als ich frisch vom
Friseur kam und sie meinte, ich solle wieder
lange Haare haben. Sie habe auch lange Haare,
und das sei schön. Ich versicherte, dass meine
Haare wieder wachsen und länger werden. Und da
die Frage "Tut es weh, wenn die Haare
wachsen?".
Ich antwortete, nein, die Haare wachsen ja von
ganz alleine und immer, das tue nicht weh. Sie
beteuerte: "Mir tut das weh!" Im weiteren
Gespräch wurde klar, dass sie (lange) Haare
waschen und kämmen meinte.
|
Bezeichnend ist, dass sie noch keine Vorstellung vom
"Wachsen" hat - wie auch, dabei kann man ja nicht
zuschauen. Selbst bei Pflanzen ist das nur in Zeitlupe zu
sehen. Ihre Verbindung von "waschen" und "wachsen"
irritiert zunächst. Liegt hier eine Verwechslung durch die
Wortähnlichkeit vor? Oder überträgt sie die
Schmerzerfahrung beim Haarewaschen auf das Wachsen der
Haare? Kinder machen früh die Erfahrung, dass Pflanzen
durch Gießen wachsen. So könnte es ja auch mit den Haaren
sein.
Auffallend ist in dieser Situation auch, wie positiv sie
lange Haare sieht. Überhaupt sind Haare wichtig, eine
Puppe ohne Haare, das findet sie nicht gut. Die
Hochschätzung langer Haare bei ihr könnte an den
Vorbildern von Mutter und Großmutter liegen. Aber
kulturgeschichtlich waren lange Haare auch bei Männern
zumeist positiv besetzt, bis hin zum Einsatz von
Langhaarperücken.
Es ist immer wieder lehrreich zu sehen, wie Kategorien,
die uns vollkommen selbstverständlich sind, für Kinder
Rätsel bergen. Rätsel, die in der Philosophiegeschichte
auch häufig Anlass zu ausgiebigen Kontroversen boten. Was
"Wachsen" und allgemeiner "Werden" bedeutet, ist
Philosophen und Theologen keineswegs selbstverständlich.
Zumal mit Wachsen immer auch Vergehen und Zerfallen
verbunden ist. "Wie scheint doch alles Werdende so krank"
schrieb Georg Trakl in seinem Gedicht "Heiterer Frühling".
Kurz nach dem siebten Geburtstag kam die Frage "Tut
Sterben weh?".
|
Indirekte Fragen. Familienbeziehungen.
Kindlicher Egoismus. Komplexitätsproblem.
Verdrängung
DIE MAMA SAGT, DIE
OMA IST IHRE MAMA!? (3-)
Klara berichtet mir empört "Die Mama sagt, die Oma
ist ihre Mama!?" Der Zweifel daran ist offenkundig.
Sie will Aufklärung von mir, und auch Unterstützung,
denn "Das will ich nicht!".
Ich erkläre ihr, dass die Mama Recht habe, das
stimme so. Und wenn die Oma nicht die Mama von der
Mama wäre, dann wäre die Mama nicht die Mama von der
Klara. Sie schaut beleidigt. Das muss sie erst
einmal verarbeiten. Ich versichere ihr, dass jede
Oma auch Mama sei. "Wirklich alle?" Als ich das
bejahe, ist sie ein bisschen versöhnt. "Und beide
haben dich lieb, die Oma und die Mama!", füge ich
noch hinzu. Denn es ging wohl auch um emotionale
Konkurrenz. |
Die hier aufblitzende Eifersucht auf die Mama im Blick auf
die Oma ist charakteristisch für diese Altersstufe, die auch
nicht immer gut damit umgehen kann, wenn ein Geschwisterchen
kommt. Darüber hinaus ist wohl auch das Bedürfnis nach einer
klaren Welt mit eindeutigen Rollen beteiligt. Das Kind nimmt
schon wahr, dass die Welt nicht so einfach ist, wie es die
Sprache suggeriert, wonach Oma Oma ist und Mama Mama. Mamas
können auch Oma sein und jede Oma ist auch Mama. Das ist
zunächst irritierend und beunruhigt gelegentlich.
"Das will ich nicht!" benennt sehr anschaulich den Impuls,
der hier spontan kommt: Zu verdrängen, eine
irritierende/bedrohende Wirklichkeit abzulehnen, nicht zur
Kenntnis zu nehmen. Wohlgemerkt als Reaktion eines Kindes -
die vollkommen verständlich ist und so auch stehen bleiben
darf. Einige Monate später ist es akzeptierte Wirklichkeit,
dass die Oma die Mama von der Mama ist. Auch wenn es im
Weltbild weiterhin lange nicht integriert werden kann, da
z.B. das historische Zeitverständnis noch nicht entsprechend
entwickelt ist. Noch mit Anfang Fünf ist es für Klara nicht
eindeutig klar, ob die Mama nicht auch "vor" der Oma gelebt
haben könnte - sie arbeitet dann allerdings daran, dies für
sich zu klären.
Indirekte Fragen sind in diesem Alter (3) sehr häufig. Das
könnte einerseits mit Sprachökonomie zusammenhängen.
Andererseits damit, dass Kinder in diesem Alter noch in
vielen Belangen unsicher sind, Begriffe nicht kennen,
Zusammenhänge nicht sehen - aber zugleich schon ein recht
kompaktes Weltwissen und Weltbild haben, in welchem sie sich
sicher fühlen. Da möchte/kann ein Kind nicht selbst alles in
Frage stellen. Und Erwachsene sollten hier nicht zu
besserwisserisch auftreten, sollten das Kind in seiner Sicht
ernst nehmen.
Mit Fünfeinhalb erklärt mir Klara dann von sich aus, dass
ihre Oma die Mama der Mama sei. Nun war das Thema also
abgeschlossen, zu eigen gemacht. Sie begriff zugleich damit
auch weitere Dimensionen der Generationenfolge, etwa die
Weitergabe von Wissen - die Mama habe von der Oma gelernt,
ihr, Klara, die Haare zu Zöpfen zu flechten. Zeit wird auch
verstanden über die Weitergabe von Wissen!
|
Warum-Fragen. Generalisierung.
Natur-Wissenschaft
WARUM? (3-)
Eine Situation ist mir besonders in Erinnerung zum
frühen "Warum". Wir waren auf einer blühenden
Frühlingswiese, die Karthäusernelken interessierten
Klara. Sie erkannte auch an geschlossenen
Blütenknospen die Blume korrekt. Als ich fragte, wo
sie Karthäusernelken sehe, erkennt sie die auch bei
geschlossenen Blüten: "Die auch!". Ich erklärte ihr,
dass die Blüten nicht alle auf einmal aufgehen. Und
da traf mich das "Warum?" ganz unerwartet. Als
Erwachsener hält man es ja für vollkommen
selbstverständlich, dass Blumen nicht alle auf
einmal blühen. Doch warum eigentlich?
Ich antwortete (in brav teleologischer Manier) mit:
"Damit die Bienen länger etwas zu essen haben." Ihre
Reaktion war interessant und zeigte, wie
selbstverständlich für Kinder die teleologische
Naturerklärung ist und dass Klara wirklich etwas
über die Welt erfahren wollte mit diesem "Warum".
"Aaah, ach so! Ja! - Und die Ameisen auch, und die
Fliegen!" |
Die ersten "Warum"-Fragen kommen mit dem "Warum"
alleine aus - sind allerdings keine Einwortfragen wie
etwa das oben genannte "Essen?" mit einem Jahr. Was der
Erwachsene zuvor gesagt hat, liefert den Bezug und die
Ergänzung des "Warum". Mit "Warum" fängt das kindliche
"Fragealter" um den dritten Geburtstag herum offiziell
an, die Kinderliteratur und die Internetforen sind voll
davon.
Die "Warum-"Fragen sind in der Tat etwas Besonderes, sie
haben andere Funktionen als die früheren Fragen nach
"Wo", "Wer", "Was". Das Kind will damit auch die
Beziehungen von Ursache und Wirkung begreifen lernen
oder die Motivationen von Menschen (warum tun Erwachsene
bestimmte Dinge, Unkraut jäten z.B.) und die Gründe für
Dinge, die es beschäftigen ("Warum kommt der Papa heute
nicht?" - "Er arbeitet noch.").
An die Warum-Fragen schließt sich der Gebrauch von
Modalwörtern der Wahrscheinlichkeit an. Nun begegnet das
Kind in den Erwachsenenantworten häufig einem
"vielleicht", "wahrscheinlich" und ähnlichen Ausdrücken.
Auch in seinen eigenen Antwortvorschlägen setzt es diese
dann ein.
Klara war mit ihrem "Warum" in der ersten Zeit seines
Auftretens zwischen zweieinhalb und dreieinhalb Jahren
sehr sprachökonomisch und hat es lange alleinstehend
verwendet - wie viele Kinder, was die Erwachsenen oft
sehr beansprucht, insbesondere bei unermüdlicher
Wiederholung. Wobei ich nicht immer wußte, ob das Kind
nur weitere Informationen wollte, die Kommunikation am
Laufen halten oder das Fragewort üben. Als dieses
Fragewort dann mit Fünf wieder gehäuft auftrat, geschah
dies zumeist in Satzform.
|
Wissenschaftliche Fragen. Körperbild
WO KOMMEN DIE POPEL HER?
(3-)
Klara sitzt im Kinderwagen und popelt. Dann
betrachtet sie aufmerksam einen Popel und fragt
"Wo kommen die Popel her?"
Mit der Antwort "aus der Nase" ist sie nicht
zufrieden. Es war also eine tiefer suchende
Frage. Ich erklärte ihr die Nasenflüssigkeit,
die sie ja vom Nase putzen kennt, und dass die
manchmal dicker ist und fest wird, wenn sie
trocknet. Damit ist sie zufrieden, betrachtet
den Popel in der Hand mit neuen Augen. |
Die Feststellung von Kant, dass jeder Erkenntnis
Beobachtung vorausgehe, Sinneswahrnehmung, wird hier
greifbar. Die Sinneswahrnehmung führt zur Frage, weitere
Wahrnehmungen (Nasenschleim, der manchmal dicker ist,
der im Taschentuch trocknet etc.) führen zur Antwort.
Und es ist kein Zufall, dass Fragen wie diese
gleichzeitig mit den ersten Warum-Fragen auftauchen. Das
Interesse an Zusammenhängen tastet sich an verborgenen
Herkünften und Ursachen entlang. Charakteristisch ist,
dass hier nicht gefragt wird "Was sind Popel?" oder
"Woraus sind Popel?", sondern "Wo kommen Popel her?".
Die Frage "Was sind Popel?" gehört in diesem Altern noch
in einen ganz anderen Kontext, nämlich den des
Semantikerwerbs. "Wie entsteht ein Popel?" ist eine
Frage älterer Kinder oder Erwachsener.
Als Beginn der Wissenschaft im Kindesalter wird im
Anschluss an Freud gerne die Frage genommen "Woher
kommen die kleinen Kinder?". Ich finde die Frage "Wo
kommen die Popel her?" auch nicht schlecht als Kandidat.
Eine "Freudsche" Parallele ist der Bezug zur eigenen
Körperlichkeit. Die Frage nach der Herkunft der Kinder
hat heute wohl nicht mehr die Relevanz, die sie früher
einmal hatte. Zumeist wird dem Kind recht früh erklärt,
warum z.B. bestimmte Frauen so dick sind (schwanger,
Baby im Bauch) und dass es selbst aus dem Bauch der Mama
gekommen sei.
HIer kann auch der Zusammenhang mit Erkältungen erklärt
werden, kann vermittelt werden, wann wir besonders viel
(Kältereiz), wann besonders zähen (Infektionen)
Nasenschleim absondern. Spannend für Kinder kann auch
die Erklärung sein, dass im Popel die Bakterien gefangen
sind und der Schmutz aus der Luft.
Eine durchaus ernst gemeinte Studie des Biochemikers
Scott Napper an der Universität Saskatchewan sollte 2013
klären, ob der (bei Kindern und auch manchen Erwachsenen
zu beobachtende) Verzehr von Popel das Immunsystem
stärke. Ein Ergebnis lag Anfang 2016 noch nicht vor. In
Anbetracht des ohnedies regelmäßig über den Rachenraum
in den Magen gelangenden Nasensekrets dürfte dieser
Nachweis auch kaum Popel-spezifisch gelingen.
|
Indirekte Fragen. Geschmacksurteile.
Soziales Einverständnis. Wortbedeutungslernen
DAS IST
EIN SCHICKES KLEID!? (3)
Wir sehen eine Hochzeitsgesellschaft. Besonders
ein weißes Damenkostüm hat es Klara angetan,
vermutlich ist die Trägerin die Braut. Ihr Satz
ist einerseits ganz selbstbewusst vorgetragen,
aber ein kleines Fragezeichen ist doch zu
erkennen.
Ich bestätige, dass dies ein schickes Kleid sei.
"Gefällt es dir auch?", will sie wissen.
Obgleich das Kostüm nicht ganz meine
Geschmackspräferenzen trifft, bejahe ich, denn
ihr Entzücken ist unübersehbar, das möchte ich
nicht trüben. In anderen Situationen erkläre ich
natürlich auch, wenn ich ihren Geschmack nicht
teile. |
Das Kind will hier
zweierlei, einerseits das Wort "schick" erproben, das
es wohl noch nicht so lange kennt. Und darüber hinaus
Geschmacksurteile austauschen, primär mit dem Ziel des
Einverständnisses. Obgleich es durchaus schon weiß und
akzeptiert, dass es unterschiedliche
Geschmacksvorlieben gibt. Und es stellt mir zu dieser
Zeit auch einmal vor einem Schaufenster die Frage
direkt "Ist das ein schickes Kleid?".
Dass auch Geschmacksurteile sozial gelernt
werden, wird hier unmittelbar greifbar. Aber früh
lernt das Kind auch, dass es unterschiedliche
Geschmacksurteile für die gleiche Sache gibt und dass
Urteile sich auch beim Individuum selbst ändern. "Rosa
ist nicht mehr meine Lieblingsfarbe" bekennt Klara
später mit sechs Jahren. Und zwar mit dem deutlichen
Bewußtsein, dass dies auch einen Abschied von einem
Gruppenphänomen bedeutet: "Kleine Mädchen mögen alle
Rosa!"
Die Toleranz für anderslautende Urteile
wächst mit dem Alter, aber das Bedürfnis nach
Übereinstimmung bleibt. Was wir ja auch von
Erwachsenen kennen. Davon zehren noch
Partnerschaftsplattformen im Internet, die
"Übereinstimmungsprofile" erstellen nach
Musikvorlieben und dergleichen.
Weder allzu eifrige und freundlich gemeinte
Übereinstimmung mit den Geschmacksurteilen der Kinder,
noch überhebliches Herausstellen des eigenen,
vermeintlich "reifen" Geschmacksurteils sind hier
hilfreich. Aufmerksamkeit für die Reaktionen des
Kindes auf die eigene Antwort ist sinnvoll. Die
Entwicklung eigener Geschmacksurteile ist ein
wichtiger Schritt in der Entwicklung des Kindes, der
freundlich begleitet werden sollte, weder forciert
angeschoben, noch kritisch abgebremst.
Für die Sprachentwicklung zeigt diese Frage
die Bedeutung von Anwendungsbedingungen für die
Ausbildung semantischer Felder. Impliziert ist ja auch
die Frage, wann Erwachsene etwas "schick" nennen.
|
Verabredungen. Zahlen. Uhrzeit
IST DAS JETZT SIEBEN?
(3+)
Das Kind möchte am frühen Abend wissen,
wann die Mama nach Hause kommt. Ich sage, um Sieben.
Sie zeigt auf die Uhr und fragt "Ist das jetzt
Sieben?". Die Zeiger stehen etwa auf sechs Uhr.
Ich erkläre ihr den Unterschied von großem und
kleinem Zeiger und wo der kleine Zeiger stehen muss,
wenn es sieben Uhr ist. Sie nickt und wechselt dann
rasch das Thema. Noch ist ihr die Uhr
nicht ganz geheuer. |
Klara zählt schon seit einiger Zeit fleißig, kommt bis
vierzehn bei Objekten und auswendig zählend gelegentlich
über zwanzig. Gleichzeitig entwickelt sich auch das
Interesse an Zeit. Allerdings hat sie noch keine
Vorstellung von zeitlichen Dimensionen. Ein Satz aus
dieser Zeit ist: "Das ist mir zu lang!", bezogen auf die
Auskunft, die Mama komme in 10 Minuten. Ihr Zeitabläufe
auf der Uhr zu demonstrieren, stößt nur auf verhaltenes
Interesse, gelegentlich auch auf Ablehnung. Erst mit
Fünf entwickelt sich ein etwas vertrauteres Verhältnis
zu Uhren.
Interessanterweise ist das Kind in dieser Zeit, zum Ende
des vierten Lebensjahres, auch an klaren inhaltlichen,
allerdings nur vage auf eine Zeit bezogenen,
Verabredungen interessiert - die sie allerdings ohne
Scheu dann über den Haufen wirft. Also etwa
Verabredungen am Morgen darüber, was sie am Nachmittag
tun möchte. Mit Fünf wird die Uhrzeit dann allmählich zu
einer greifbaren Größe für sie.
Der Umgang mit der Uhr wird auch durch einige keineswegs
selbsterklärende strukturelle Besonderheiten unseres
Zeitmesssystems erschwert, an die Erwachsene sich längst
gewöhnt haben, die Kinder aber irritieren können. Zum
einen ist das Zeitsystem nicht, wie andere Messsysteme
in Mitteleuropa, dezimal organisiert. Zum anderen
wechselt es auch noch die Gliederungsstruktur von 24
Stunden auf 60 Minuten pro Stunde und weiter herunter 60
Sekunden für eine Minute. Und damit nicht genug, misst
der "kleine" Zeiger bei konventionellen Uhren die
"große" Einheit, nämlich die Stunden, der "große" Zeiger
aber die Minuten!
|
Kommunikative Fragen. Fehlerkompetenz
WAS HABEN WIR FALSCH
GEMACHT? (4-)
Wir wollten vor einigen Wochen zusammen Waffeln
backen und das ging gründlich daneben. Die Gründe
waren die üblichen: Eisen zu heiß oder nicht heiß
genug, zuviel oder zu wenig Fett ..... Heute kamen
wir wieder in die Küche und da stand das
Waffeleisen. Klara ganz rasch, aber fast geflüstert
"Heute machen wir keine Waffeln!?", dann "Haben wir
falsch gemacht!" und dann "Was haben wir falsch
gemacht?"
Einer von den Sätzen, die dazu verleiten, dem Kind
mehr Kompetenzen zuzusprechen als es bereits hat.
Nur ein leicht schwankender Unterton verriet, dass
sie keine Vorstellung davon hatte, was man beim
Waffelbacken falsch machen kann. Womit sie sich
nicht so sehr von vielen Erwachsenen unterscheidet,
wie man in einschlägigen Foren nachlesen kann. |
Eine wichtige Kompetenz offenbart der Satz ganz
deutlich und gewiss. Die Kompetenz, alltägliche Dinge
wie Tee kochen und Autofahren nicht mehr als
selbstverständlich hinzunehmen, ein erstes Gefühl für
die Komplexität dessen, was die Erwachsenen da so Tag
für Tag treiben. Verbunden mit der Lust, älter zu werden
und Dinge zu "dürfen", kommt hier eine erste Ahnung
davon, dass Kindsein auch ein Privileg ist und eine
Chance, Fehler auch noch im Alltäglichen zu machen.
Verbunden mit der Erleichterung darüber, dass auch
Erwachsene im Alltag noch gelegentlich etwas falsch
machen - eingebunden in diesem anrührenden "Wir".
Fehler zu erkennen, zu bekennen und an Verbesserungen zu
arbeiten, ist das eine; die Kompetenz, "Fehler" als
Kategorie in das eigene Weltbild zu integrieren, geht
dem jedoch voraus - und diese entwickelt das Kind nun.
Das ist keine Selbstverständlichkeit und viele Eltern
überfordern ihre Kinder damit, Fehler zu reklamieren,
ehe das Kind überhaupt begreift, dass unter den vielen
Möglichkeiten, Dinge zu tun, manche nicht zum
gewünschten Ergebnis führen und dies analysierbar ist.
Und darüber hinaus zeigt der Satz, genauer: die Folge
der oben zitierten drei Sätze eine enorme rhetorische
Kompetenz, komplexe Kommunikationen zu führen,
Implikationen eines Satzes zu explizieren. Auch Ansätze
zur sachlichen Selbstkritik und zu bewußten
Lernprozessen sind erkennbar, noch im Kollektiv
formuliert, wie zumeist in diesem Alter. Und dieses
"wir" hier meinte keineswegs eine Negation im Sinne von
"ich war das nicht", sondern Solidarität!
|
Sterblichkeit. Kochen. Backen. Braten
IST DAS GIFTIG? (4-)
Zum ersten Mal stellt Klara diese Frage kurz nach
ihrem vierten Geburtstag. Und zwar zu einer
angebrannten Rosine auf einer Rosinenschnecke. Der
Geschmack ist bekannt: Bitter. Eine Geschmacksnote,
die Klara in diesem Alter eigentlich mag. Aber nicht
bei einer angebrannten Rosine.
Es folgte ein längeres Gespräch über angebrannte
Rosinen, Geschmacksveränderungen durch Braten,
Giftstoffe die beim Verbrennen entstehen oder beim
Kochen verschwinden und giftige Pilze, die immer
giftig sind, und solche, die beim Kochen ihr Gift
verlieren. |
Auf den ersten Blick ist das keine sonderlich
interessante Frage. Menschheitsgeschichtlich allerdings
schon. Ohne diese Frage und ihren Kontext hätten wir
wohl kaum überlebt. Dass Klara diese Frage zu einer
Rosine stellt, ist bemerkenswert. Denn natürlich gehören
Rosinen für sie zum Bereich des Essbaren. Mir vier
Jahren ist ihr also deutlich, dass auch Essbares nicht
immer sicher zu essen ist. Und sie orientiert sich dabei
am Geschmack - der bei angebrannten Rosinen in der Tat
grauenvoll ist.
Sicherlich ist der Geschmack kein zuverlässiger
Indikator, was Giftigkeit betrifft, dennoch sollten
Kinder grundsätzlich ermutigt werden, auf ihre
Geschmacksurteile zu vertrauen. Was natürlich nur Sinn
macht bei einer vernünftigen Ernährung auch der Eltern
und einer frühen Geschmackserziehung durch anständiges
Obst und Gemüse, mal einem Sennerei-Käse auf dem Tisch,
durch Kennenlernen von Kräutern und Gewürzen oder
allgemein das, was Slow Food inzwischen in die
Kindererziehung einzubringen sucht: differenzierte
Geschmackserfahrung jenseits von süß, salzig und fett.
In diesem Alter interessiert Klara sich auch sehr für
den Unterschied zwischen giftigen und essbaren Pilzen,
vermutlich auch dank Pippi Langstrumpf. An "giftig"
interessiert sie vor allem, ob man daran sterben kann.
Das macht Pilze besonders aufregend, auch wenn sie immer
noch nicht wirklich versteht, was Sterben bedeutet, die
Endgültigkeit daran - zumindest für das irdische Leben.
Sie ist nach wie vor davon überzeugt, dass Pippi
Langstrumpf Fliegenpilz essen konnte, weil sie kein
"normaler" Mensch ist. "Wir können das nicht!"
|
Implizite Fragen. Wahrnehmungswelt. Kohärenz
DA IST DER MOND/WARUM
IST DER MOND AM TAG DA? (4-)
Klara ruft ganz begeistert bei einem Stadtbummel:
"Da ist der Mond!" Und in der Tat, eine ganz dünne
Sichel steht da zwischen den Hausdächern, kaum
wahrzunehmen. Sie, nochmals, etwas verlegen wegen
ihrer Begeisterung, zumal ich nicht in ähnliche
Begeisterung ausgebrochen bin, leise: "Da ist der
Mond." Und als wolle sie begründen, warum sie so
begeistert sich äußerte: "Wo aber doch gar nicht
Nacht ist!?" Die eigentliche Frage bleibt
unausgesprochen, ist aber deutlich: "Warum ist der
Mond am Tag da?".
Ich erkläre ihr, dass der Mond oft tagsüber da sei,
man ihn aber meist nicht sehen könne, weil der
Himmel so hell ist oder Wolken vor dem Mond stehen.
Das akzeptiert sie als Erklärung, als habe sie sich
schon Jahre mit Astronomie beschäftigt! Also auch in
diesem Alter ist durchaus schon die Fähigkeit und
Bereitschaft da, "naturwissenschaftliche"
Argumentationen anzunehmen, es muss kein Mann im
Mond herhalten und der Mond muss auch nicht sonstig
anthropomorphisiert werden. |
Vergegenwärtigen wir uns, wie Kinder den Mond kennenlernen.
In Bilder- und Liederbüchern ist er eng mit der Nacht
verbunden. Kein Bilderbuch zeigt ihn bei Tage, in keinem
Kinderlied wird sein Erscheinen bei Tage besungen. In "Der
Mond ist aufgegangen" wird er sogar ganz analog zur Sonne,
die den Tag "macht", als Macher der Nacht dargestellt.
Dennoch nimmt Klara die naturkundige Erklärung sofort an,
will nicht wissen, warum der Mond tagsüber nicht "schlafe"
(im Wechsel mit der Sonne) oder ähnliches.
Als Beleg für eine Phase in der Entwicklung von
Kleinkindern, die naturwissenschaftlichen Erklärungen
distanziert entgegenstehe, wird z.B. angeführt, dass ein
Kind der Meinung sei, die Mama sei krank, weil das Kind böse
war. Solche Vorstellungen aber finden sich bis ins
Erwachsenenalter - und es gibt faktisch zahlreiche Menschen,
die krank sind, weil ein anderer "böse" war, ganz ohne
Magie. Die "magische" Erklärung ist nur eine unter vielen,
die das Kind ausprobiert, solange es keine bessere Erklärung
hat. Und je lebhafter die Phantasie eines Kindes ist, umso
kühner sind diese Entwürfe. Sobald Kinder für Naturphänomene
naturkundlich basierte und plausible Erklärungen angeboten
bekommen, nehmen sie diese nach meiner Erfahrung
bereitwillig an.
|
Naturforschung. Religion
WOMIT
STECHEN DIE BIENEN? (4-)
Das Kind findet eine tote Biene und betrachtet
sie interessiert. "Womit stechen die Bienen?",
fragt es. Ich zeige auf das Körperende der
Biene, "da sitzt der Stachel".
Dass die Biene "mit dem Po" sticht, findet das
Kind zwar interessant, aber wenig einleuchtend,
da man dort keinen Stachel sehen kann. Es
untersucht die Biene, findet am Kopf den
Saugrüssel und meint: "Damit stechen die
Bienen!" Ganz klug.
Ich erkläre ihm die Funktion des Saugrüssels und
dass der Stachel "am Po" versteckt sei und nur
rauskomme, wenn die Biene stechen will. Ich
zeige ihm auch, wie sanfter Druck am Hinterleib
der toten Biene den Stachel herauskommen lässt.
Und mache es darauf aufmerksam, dass im Stachel
noch immer Bienengift sitze, auch bei der toten
Biene. |
Um den vierten Geburtstag herum erwacht bei vielen
Kindern das Interesse an Naturphänomenen. Die soziale
Welt ist einigermaßen sortiert und verlässlich, es gibt
die ersten stabileren Freundschaften, die sprachliche
Entwicklung ist soweit gediehen, dass komplexe
Kommunikation stattfinden kann. Und sie haben auch schon
die ersten "barocken" naturkundlichen Sammlungen von
Steinen, Muscheln, Blumen, Hölzern etc., je nach
Temperament, angelegt.
Nun kommen gezieltere Fragen nach Zusammenhängen im
Naturgeschehen. Dabei werden bereits verschiedene
Beobachtungen und Wissensbestände miteinander verknüpft,
gesteuert von praktischen Erwägungen und dem unmittelbar
Einsichtigen. Oftmals begegnet in diesem Alter ein sehr
dezidierter Pragmatismus. "Die Biene muss stechen, damit
man sie nicht totmacht!"
Das heißt nicht, dass beim Spiel nicht weiterhin, ja
gerade jetzt, gezaubert wird oder unvermittelt eine Fee
auftaucht. Das heißt aber, dass es, wie die meisten
Erwachsenen ja auch, vorwiegend dort zu magischen,
religiösen oder sonstig nicht experimentell belegbaren
Wirkungs- und Ursachenerklärungen greift, wo es keine
Beobachtungsdaten zur Verfügung hat. Es lebt von nun an
mit dem Nebeneinander von
rational-naturkundlicher Erklärung und religiöser
Auffassung. Der Stachel der Biene gehört in den einen
Bereich, ihr Tod in den anderen.
Und so begräbt das Kind die Biene und erzählt vom lieben
Gott, der die Biene wieder lebendig mache. "Aber nicht
gleich." "Das dauert ganz, ganz lang!" Implizite formuliert
das Kind hier auch anspruchsvolle theologische Fragen, etwa
die, ob eine "Auferstehung des Fleisches" auch für Tiere
gelte.
|
Ernährung. Tod und Auferstehung
WAS
ESSEN DIE TOTEN? (4-)
Einige Tage später begrub das Kind mit mir
zusammen eine Maus. Dabei stellte es mir die
Frage "Was essen die Toten". Ich war irritiert
und sortierte erst einmal meine Gedanken. Da
erklärte mir das Kind schon, was man unter der
Erde essen könne: "Da gibt es Kartoffeln!" Und
es ergänzte: "Und Karotten und Rüben!"
Ich hatte dem nichts hinzuzufügen. Das Kind
hatte eine eigene Lösung gefunden, die
widersprüchlichen Informationen zum Todesthema
aus Religion und Lebensalltag miteinander zu
verbinden. Die akzeptierte ich. |
Hinterher erfuhr ich von den Eltern den Hintergrund der
Frage. Als die Eltern von einer Beerdigung zurückgekommen
waren, fragte das Kind "Was essen die Toten?". Die Mutter
antwortete ihm eher vage, dass die Toten ja die Kartoffeln
essen könnten, die im Boden sind. Ich hätte diese Antwort
nicht gegeben, finde den Umgang des Kindes damit aber
überzeugend und hilfreich.
Seine Lösung ist durch und durch pragmatisch und an Kohärenz
orientiert. Einerseits hatte es gelernt, dass Tote im Boden
begraben werden. Aus seinem religiösen Umfeld hatte es von
der Auferstehung Christi erfahren und dass Gott die Toten
wieder lebendig machen könne. Daraus hatte es für sich
geschlossen, dass die Toten im Boden nur versteckt sind und
irgendwie weiterleben. Und dann müssen die natürlich auch
etwas essen. Diese Stimmigkeit sollte man dem Kind nicht
vorschnell nehmen.
Zu religiösen Vorstellungen kommen Kinder wohl primär durch
die kulturelle Erziehung, nicht aus einem irgendwie
"ursprünglichen" Empfinden. Religiöse, magische, mythische
Vorstellungen sind avancierte Kulturleistungen, nicht
Ausdruck eines "kindlichen Denkens". In solchen
Vorstellungen von einer ursprünglichen Religiosität des
Kindes wirkt C.G. Jungs Konzeption von den "zwei Arten des
Denkens" mit ihrer Parallelisierung von Ontogenese und
Phylogenese nach, die nachgewiesen falsch ist.
Das Kind ist aus eigener Überlegung eher pragmatisch. Bei
Rollenspielen versichert es sich und dem Erwachsenen gerne,
es sei jetzt z.B. Pippi Langstrumpf "nur im Spiel". Auch
wenn nach seinen Vorgaben ein Ding etwas anderes ist als in
Wirklichkeit (ein Stock ein Pferd z.B.) betont es häufig,
das sei "nur Spiel".
|
Übertragene Bedeutungen. Sinnesbegriffe.
Stimme und Psyche
IST DER (JOE COCKER)
SAUER? (4-)
Joe Cocker Fans, weghören! Mich hat die Frage auch
etwas erschüttert, im Autoradio lief ein Lied von
ihm, wir standen auf einem Parkplatz,
Klara saß hinter mir im Kindersitz und fragte
"Ist der sauer?". Was meinte sie, hatte sie eine
Synästhesie, empfand sie die Stimme als "sauer"?
Oder meinte sie es eher im Sinne von "schlecht
gelaunt"?
Ich sagte, das sei ein Sänger mit einer
ungewöhnlichen Stimme, die höre sich vielleicht
für sie eigenartig an, ob sie die möge? Sie
schüttelte den Kopf. Ich erzählte, dass der
Sänger sich in seinem Leben oft geärgert habe.
Sie: "Jetzt auch?". Dem folgte eine längere
Unterhaltung über Sänger, Autoradio, CDs,
Süßigkeiten. |
Wie ich später von ihr erfahren habe, sei im
Kindergarten eine Erzieherin "sauer" über ein Kind
gewesen, das absichtlich Farbe auf den Boden geschüttet
hatte - und die Erzieherin hat das auch so formuliert:
"Jetzt bin ich aber sauer!". Und irgendwie muss die
Kindergärtnerin dabei so geklungen haben wie Joe Cocker.
Etwas heiser vielleicht. Und nun kann ich nie wieder Joe
Cocker hören ohne zu denken, ja, irgendwie klingt der
sauer. War Joe Cocker schlecht gelaunt,
hatte man ihn absichtlich geärgert? Nun ja, Suchtprobleme
gab es, Cocker hat sich gelegentlich geprügelt und dass
seine Ranch "Mad Dog Ranch" heißt, lässt auch nicht auf eine
ausgeglichene Psyche schließen. Da hat Klara vielleicht
einen auf Anhieb richtig eingeschätzt.
Für ein Kleinkind ist die "eigentliche" Bedeutung der
Wörter noch nicht stabil. "Sauer" etwa benennt noch ein
diffuses Feld unterschiedlicher Anwendungsbereiche, mit
noch zu erprobender Semantik, deren Bogen sich von den
sauren Drops über die saure Milch bis zur "sauren"
Erzieherin spannt. Daher kann es auch noch nicht mit
"übertragenen" Bedeutungen souverän umgehen. Zudem sind
Adjektive für Sinneswahrnehmungen noch nicht stabil
einer fixen Kategorie von Sinneswahrnehmungen
zugeordnet. "Laut" kann schon mal eine Farbe sein und
"bunt" ein Lied. Und dahinter muss nicht immer eine
synästhetische Erfahrung stehen.
Einige Jahre später sollte ich von ihr in eine
wochenlang sich hinziehende Debatte über die
"Verrücktheit" von Lady Gaga verwickelt werden. Ob die
verrückt sei, warum die verrückt sei, ob sie "wirklich"
verrückt sei, ob sie nur verrückt spiele, was denn
"verrückt" bedeute, dass ihre Kleidung bestimmt verrückt
sei. Semantik ist auch eine Frage der
Anwendungsbedingungen und der Anschauungsnähe, das wird
bei Kindern im Spracherwerb immer wieder sehr deutlich.
|
Frage-Rhetorik. Wortschatz
WAS HEIßT
EIGENTLICH 'SALON'? (4)
In einer Pippi Langstrumpf-Geschichte taucht das
Wort 'Salon' auf. Die Geschichte wurde dem Kind
schon oft vorgelesen, nun fragt es zum ersten
Mal "Was heißt eigentlich 'Salon'?".
Ich erkläre mit dem Hinweis auf das
gebräuchlichere Wort 'Wohnzimmer' und mache das
Kind darauf aufmerksam, dass der Ausdruck
'Salon' altertümlich sei und heute nur noch
besonders schöne oder große Wohnzimmer meine.
|
Das Kind nickt zur Erklärung
verständnisvoll-interessiert. Es begreift in diesem
Alter allmählich, dass die Sprache mehrere Ausdrücke für
die gleiche Sache kennt, dass es unterschiedliche
Stilebenen gibt mit einem spezifischen Wortschatz und
dass auch Sprache eine Geschichte hat. Zu "Salon" meint
sie nach der Erklärung: "Das gefällt mir, 'Salon', das
ist schön!". Sprache wird auch zu einem ästhetischen
Phänomen nun, wobei mir nicht klar war, ob sie den Klang
von "Salon" meinte oder eher schätzte, dass dieses Wort
nicht so gebräuchlich und etwas altmodisch ist, oder
schätzte, dass es besonders schöne/große Wohnzimmer
bezeichnet.
Bemerkenswert ist hier die gezielte Frage nach
Wortschatz, nach einem Wort, das sie schon gelegentlich
gehört hat, allerdings wohl nicht im Alltag. Interessant
ist auch, dass sie mit einem Muster fragt, das sie von
Erwachsenen kennt, das im Kindermund etwas seltsam
wirkt, altklug. Denn der rhetorische Gehalt von
"eigentlich" ist der Altersstufe kaum zugänglich. Die
Formel wiederholte sie auch nur höchst selten.
Kurz nach dem siebten Geburtstag erklärte mir das Kind
einmal leicht genervt "Du verwendest immer so
komplizierte Wörter!" Es ging um die Wörter "Adapter"
und "Optik". Das Kind war gerade gar nicht mehr
begeistert über interessante neue Wörter, sondern
bemüht, seinen bestehenden Wortschatz besser zu
verstehen und zu organisieren, fragte mich z.B., "was
bedeutet eigentlich 'Mörder'?". Die Wissensexplosion
dank Schule, der Anspruch, nun Lesen, Schreiben und
Rechnen zu lernen, führte es im Bereich der Sprache zu
einer gewissen Askese, es wollte nun hier ein klares
Fundament.
|
Fragemuster. Gedächtnis. Veränderung
WAS ICH SCHON LANGE
MAL FRAGEN WOLLTE ... (4)
Wir gingen durchs Treppenhaus, auf dem Treppenabsatz
vor der Wohnung von Klaras Eltern steht ein Schrank,
auf dem Kindersitze und Tragegestelle abgelegt sind.
Klara schaut hoch und wollte "schon lange mal
fragen", wo ihr blaues Tragegestell hingekommen sei,
das früher einmal dort lag.
Ein Lächeln konnte ich mir nicht verkneifen, ob
dieser Floskel. Dazu antwortete ich
sachentsprechend, dass sie für den Tragerucksack ja
schon zu groß sei und die Eltern den vielleicht
schon an andere Eltern weitergegeben haben. Dann
fragte ich noch zurück, ob sie denn den Rucksack
schon lange vermisse. Sie nickte eifrig. |
Klara hat offensichtlich verstanden, dass diese
Frageformel nur einen engen Anwendungsbereich hat. Sie
markiert das auch durch ihr eifriges Nicken auf meine
Frage, ob sie den "schon lange" vermisse. Ich habe die
Formel bei ihr dann nicht wieder gehört. Vermutlich hat
sie auch verstanden, dass es sich um eine
Einleitungsfloskel handelt, die im Privatbereich eher
dysfunktional ist.
Sie entwickelt in diesem Alter auch ein erstes Gespür
dafür, dass jemand "etwas gar nicht so meint" wie er
oder sie das sagt. Dass es Höflichkeits- und
Überbrückungsfloskeln gibt, Gesprächseinleitungen in
sozial unklaren Beziehungen, die man nicht zu wörtlich
nehmen darf. Dazu gehört auch die oben unter dem
Stichwort "sauer" angesprochene Verwendung von Wörtern
in übertragener Bedeutung.
Der Gebrauch floskelhafter Wendungen ist
charakteristisch für fortgeschrittene Stufen des
Spracherwerbs, ab etwa drei Jahren. Kinder dieser Stufe
(teilweise in entsprechendem Umfeld auch schon weit
früher oder später) prägen sich auch komplexere
Sprachformeln korrekt ein und erproben die dann in
Kontexten, die ihnen geeignet erscheinen. Es kann
durchaus sinnvoll sein, ihnen in solchen Fällen auch
eine kleine Erklärung - oder weitere Beispiele - zu
geben, wann die Formel sinnvoll ist. Wenn sie das
überfordert, signalisieren sie das schon durch
Desinteresse.
Wichtig ist es bei solchen Sprachleistungen des Kindes
nicht zu lachen. Kinder in dieser Phase des "noch nicht
groß und nicht mehr klein" sind besonders empfindlich,
wenn sie das Gefühl haben, zum Anlass eines Lachens zu
werden - auch wenn es ein freundliches Lachen ist. Ab
Sechs, Sieben sind sie da weit selbstbewußter. Und
lachen auch mal über Erwachsene, "Papa/Mama/Oma, was
hast du denn da gemacht!" - Oh!".
|
Erlaubnis-Verbot. Sozialbeziehungen bei
Tieren. Kannibalismus
DÜRFEN DIE DAS? (4)
Feuerwanzen haben sich über einen toten Artgenossen
hergemacht und waren dabei, den aufzufressen. Klara
beobachtete das aufmerksam und fragte mich "Dürfen
die das?".
Ich erklärte ihr, dass viele Tiere ihre toten
Artgenossen auffressen. Sie fragte erneut, ob die
das dürfen. Ich fragte zurück: "Wer soll das
verbieten?" Klara: "Die Feuerwanzenmama!" |
Bei dieser Altersstufe ist eine starke Ambivalenz
auffallend zwischen Eigensinn einerseits, dem
Ernstnehmen von Verboten andererseits. Das
"wohlerzogene" Kind kann abrupt tauschen mit dem äußerst
widerspenstigen. Bezugspersonen sollten beides nicht
überbewerten, sondern einfach auch stehen lassen können.
Im vorliegenden Beispiel bezieht sich die Erlaubnisfrage
auf einen Dritten, auch dies ist häufig in dieser
Entwicklungsstufe, "dürfen die das" - die Radfahrer auf
dem Bürgersteig, die Raucher am Bahnsteig und andere,
bei denen das Kind den Verdacht hat, sie verstoßen gegen
Gebote. Und nun die Feuerwanzen. Das Kind signalisiert,
dass es Probleme mit Kannibalismus hat - eine durchaus
nachvollziehbare Einschätzung. Insbesondere vor dem
Hintergrund, dass das Kind noch davon ausgeht, der
"liebe Gott" könne tote Tiere, die begraben wurden,
irgendwie irgendwann wieder lebendig machen. Es
hat von der Auferstehung Christi und auch vom "jüngsten
Gericht" als Tag der Auferstehung gehört, erzählt bekommen.
Und es hat dies auch schon selbst ausgesprochen, siehe die
Frage "Womit stechen die Bienen?".
Und noch gehen Menschenwelt und Tierwelt für sie ineins,
die Bilderbücher bestätigen dies ja auch immer wieder.
Noch ist es damit beschäftigt, die Unterschiede zwischen
Menschen und Tieren zu begreifen. Wenn Tiere einander
auffressen "dürfen" betrifft das auch ihr Bild vom
Menschen.
Und wieder einmal habe ich hier erlebt, wie wichtig
Rückfragen sind. Mit dem Verweis auf die
"Feuerwanzenmama" in ihrer Antwort hat sie eine
Erfahrung für sich konkret gemacht und ich habe etwas
erfahren über ihre Weltsicht. Die Antwort hätte ja auch
lauten können "der liebe Gott" oder "die anderen
Feuerwanzen". Soziale Regeln und deren Durchsetzung sind
ein Thema dieses Alters, und dazu gehört auch das
"Petzen" in dieser Phase.
|
Geographie. Mein. Zuhause
WO IST MEIN LAND? (4)
Auf dem Globus wollte das Kind "sein" Land gezeigt
bekommen. Es meinte Deutschland, nicht das
Bundesland Baden-Württemberg, aber die Vorstellung
davon war noch höchst diffus und überlagerte sich
auch mit der Vorstellung vom eigenen Wohnort.
Der Erwachsene zeigte die Umrissen von Deutschland,
zeigte aber auch, wo ihre eigene Stadt lag und wo
der Wohnort der Großeltern. Beim Wohnort der
Großeltern fragte das Kind "Ist das das Land von Opa
und Oma?". |
Bei dieser Frage kann der Erwachsene lernen, wie
schwierig doch die Begriffe der Geographie sind und wie
nachvollziehbar es auch ist, dass die Menschheit lange
Zeit auf einer Scheibe zu leben meinte. Der Globus kann
vom Kind noch nicht konzeptionalisiert werden. Städte,
Flüsse und Länder reichen als erste Begriffe noch
vollkommen aus. Selbst der Begriff von Bundesländern
überfordert in diesem Alter zumeist und Erwachsene
sollten damit abwarten, bis einschlägige Fragen kommen
(auch etwa zu Europa).
Der Umgang mit dem Globus, mit Landkarten und
Stadtplänen wird noch lange problematisch bleiben, das
Abstraktionsniveau ist schlichtweg zu hoch für die
kindliche Vorstellungskraft und es fehlen auch noch die
bewußten geografischen Erfahrungen durch Reisen.
Anknüpfungspunkte sind Fahrten zu den Großeltern und
Urlaubsreisen, können auch Reisen von Bezugspersonen
sein. "Hier ist der Papa gerade auf Dienstreise" kann
gut genutzt werden, um den Globus oder einen Atlas
einzusetzen - verstanden wird das allerdings erst viele
Jahre später.
Das besitzanzeigende Pronomen ist hier ganz
selbstverständlich, meine Mama, mein Papa, mein Haus,
mein Fahrrad, meine Freundin. Und nun "mein Land". Das
sind Ausdrücke, die Sicherheit bieten. "Car sharing"
oder Ähnliches ist für kleine Kinder noch nicht
sonderlich attraktiv, so wenig wie Schaufel-Sharing auf
dem Spielplatz.
|
Mensch-Pflanze
HABEN BÄUME MUSKELN? (4)
Wir kamen bei einem Spaziergang zum Zoo an einem
Vorgarten vorbei, dessen metallische Einfassung,
eine Art Geländer, samt tragender Mauer verbogen
war durch einen Baum, der sich zum Gehweg hin
ausbreitete. Klara sah das verbogene, teilweise
geborstene Geländer, die schiefe Mauer und
fragte, was da passiert sei. Ich erklärte, dass
der Baum Mauer und Geländer zur Seite gedrückt
habe. Klara schaut, überlegt, fragt: "Haben
Bäume Muskeln?"
Eine sehr kluge Frage, die mehr verdient hat als
nur ein "natürlich nicht, Muskeln haben nur
Menschen und Tiere". Denn das Problem lautet ja:
Wie schafft es der Baum, das Geländer
wegzudrücken? Ich
erklärte, dass der Baum Holzfasern habe, die
auch wachsen wie Muskeln, nur sehr viel
langsamer. Aber sie können sogar ein Geländer
verbiegen, was ein Muskel nur durch Wachsen
allein nicht kann. Nur durch Anstrengung und
wenn man den Muskel trainiert ist das vielleicht
zu schaffen. Der Baum dagegen muss nicht
trainieren. |
Klara war vier Jahre alt. Das Thema "Muskeln" spielte
gerade eine große Rolle, das Körperbild wurde komplexer,
ging über die groben Kategorien des äußerlich Sichtbaren
hinaus. Sport und Üben wurde allmählich zum Thema, wer
hat mehr Muskeln, wozu braucht man Muskeln, wie
trainiert man Muskeln, was kann man mit Muskeln
anfangen? Das alles steckt in dieser amüsanten und
irritierenden Frage. Doch die Beschäftigung des Kindes
mit dem Themenbereich Muskeln ist nicht der einzige
angesprochene Themenkomplex. Es geht auch um das
Bemühen, die Unterschiede zwischen Pflanzen und Menschen
oder Tieren zu begreifen. Und der Anlass war, verstehen
zu wollen, was mit der Mauer und dem Geländer passiert
ist.
Ihr Kommentar auf meine Erklärung war übrigens: "Die
Mauer hat Pech gehabt!" Und dann, strahlend "Der Baum
ist glücklich!" Das Thema "Glück" beschäftigt sie seit
ihrem dritten Geburtstag.
Die Max-Planck-Gesellschaft hat im Kontext ihrer
Bionik-Forschungen 2007 auf Holz als Vorbild für
Materialien mit Muskeleigenschaften hingewiesen. "Bäume
zeigen Muskeln" titelte damals das Forschungsmagazin der
Gesellschaft (Heft 3/2007). Klara war damals noch nicht
auf der Welt, aber die Frage dürften viele Kinder vor
ihr gestellt haben. Eines davon forscht nun bei der
Max-Planck-Gesellschaft.
Ein Jahr später kamen wir am gleichen Baum wieder
vorbei. Ich erzählte ihr, was sie hier gefragt hatte.
Sie schaut mich an, denkt nach, dann: "Bäume haben doch
keine Muskeln! --- Die haben Wurzeln." Ist das ein
Denken in Ausgleich (Bäume haben nicht X, dafür Y?) oder
eine Analogie über die Bedeutung "Halt geben" - den
Menschen geben die Muskeln Halt, den Bäumen die Wurzeln?
|
Krankheit. Behinderung
IST DIE FRAU KRANK?
(4)
Klara hat die Frage gestellt, als sie eine Frau im
Rollstuhl sah, die offensichtlich dauerhaft
behindert, nicht vorübergehend krank war. Es war
Anteilnahme, was aus ihrer Frage klang. Und ein
Versuch, über das Thema Behinderung zu sprechen.
Denn natürlich hatte sie schon mitbekommen, dass es
einen Unterschied zwischen dauerhaften Behinderungen
und vorübergehenden Krankheiten gibt. Ein
Unterschied, der nicht eindeutig ist.
Ich drückte mich etwas hilflos mit einem "Die Frau
hat vielleicht müde Beine." Hinterher erklärte ich
ihr den Unterschied von Krankheiten und
Behinderungen und dass niemand es möchte, in der
Öffentlichkeit wegen seines Äußeren angestarrt oder
angesprochen zu werden oder eine Frage dazu
mitzuhören. Das hat sie durchaus verstanden und
akzeptiert. Umsetzen konnte sie dieses Verständnis
jedoch dauerhaft erst im sechsten Lebensjahr, davor
überwogen spontane Neugier und Interesse. |
Vor "peinlichen" Fragen der Kinder in der Öffentlichkeit
bleibt niemand verschont. Dass eine Frau im Rollstuhl
fährt oder eine Jugendliche ganz dick ist, wollen die
Kinder erklärt haben, sofort. Klara ist auch schon mal
zu einer Mutter mit einem behinderten Kind hingegangen
und hat gefragt, was das Kind denn "habe". Die
erwachsenen Begleiter sind da schon gefordert, nicht nur
vom Kind, sondern auch von eventuellen Reaktionen des
Umfeldes. Da hilft nur Gelassenheit. Das Kind ist
neugierig und nimmt Besonderheiten genau wahr, das ist
"natürlich". Die Wahrnehmung von Differenzen gehört
substantiell zur Intelligenzentwicklung und strukturiert
das Weltwissen.
Man könnte darauf hinweisen, dass Kinder es selbst auch
nicht mögen, wegen einer Krankheit angestarrt zu werden
- das ist aber oft falsch, denn Kinder sind z.B. auf
einen Gipsarm bisweilen durchaus "stolz". Man könnte
darauf hinweisen, dass Kinder auch gerne im Kinderwagen
geschoben werden - aber das wird Behinderungen und
Krankheiten nicht gerecht. Realitätsnähe ist wohl das
Angemessenste, dass es eben Krankheiten gibt oder
Behinderungen, dass wir aber heute viele Mittel haben,
zu helfen. Und dass ein Rollstuhl eine hilfreiche
Erfindung sei. Und dass man auch mit kranken Beinen noch
viel tun kann und gut leben. Dazu fällt Kindern vieles
ein. Klara z.B.: "Sie kann ja Bilder malen!"
|
Tier-Mensch. Familie. Sozialgefüge
IST DAS
EINE RICHTIGE FAMILIE? (4)
Klara sieht Enten mit Jungen auf einem Teich und
ist begeistert, vor allem über die kleinen
Enten. "Ist das eine richtige Familie?" fragt
sie.
Die Mutter antwortet mit "Ja, das sind die
Eltern mit den Kindern". Klara will noch wissen,
wer "Papa" und wer "Mama" sei. Kurze Erklärung,
dass bei den Enten die Männchen/Papas oft bunter
seien. Es sind Stockenten und so lässt sich das
auch direkt zeigen. |
Das Familienthema ist ein besonders wichtiges in
dieser Zeit, es wird auch mit anderen Kindern oder
mit den Puppen oder auch mit Erwachsenen gespielt,
sofern die bereit sind, in die jeweilig vom Kind
zugeteilten Rollen zu schlüpfen und auch mal als Baby
aufzutreten. "Richtig" bedeutet für Klara dabei zunächst
"mit Papa und Mama", aber auch tendenziell "groß", sie
fühlt sich besonders wohl bei Familienfeiern, wenn
Onkels und Tanten und vor allem Cousinen und Cousins
zusammen sind. Sie hat dabei auch schon den Satz gehört,
"heut sind wir aber eine richtige Familie", mehrere
Generationen zusammen war damit gemeint.
Man versteht, dass Kinder früher wesentliche dazu
beitrugen, Großfamilien, Sippen, Dorfgemeinschaften,
Stämme etc. zusammen zu halten. Bei Straßenfesten heute
tragen sie selbst in den Stadt noch durchaus zum
Zusammenhalt der Nachbarschaft bei. Die Unterscheidung
in Familie im engeren Sinne (Vater, Mutter, Kind/er) und
Familie im weiteren (mit Oma, Opa, Tanten, Onkels,
Cousinen, Cousins) kennt Klara bereits, explizit macht
sie diese Unterscheidung erst mit Fünf.
Ein zweites Thema, das in dieser Frage mitgemeint ist,
ist das der Verbindung von Tieren und Mensch. Auch Tiere
haben Kinder, auch Tiere haben Familien - also sind sie
uns sehr nahe. Unabhängig von Tier-Bilderbüchern, die
Tiere in menschlichen Situationen, als Stellvertreter
menschlicher Themen behandeln, und Kuscheltieren. "Eine
richtige Familie" kommt auch später noch gelegentlich,
vorzugsweise bei Enten am See, aber auch z.B. bei
Weinbergschnecken unterschiedlicher Größe.
|
Uhrzeit. Zeit. Zahlen
WARUM SIND ZWEI
STUNDEN LÄNGER ALS ZEHN MINUTEN? (4+)
Klara wollte wissen, wann die Mama nach Hause komme.
Als ich sagte, in etwa zwei Stunden, wollte sie
wissen, ob das lang sei. Ich sagte, ungefähr so lang
wie vier mal Mittagessen. Sie: "10 Minuten?" Ich:
"Nein, viel länger!" Das Kind: "Warum sind zwei
Stunden länger als zehn Minuten?"
Meine Erklärung, dass eine Stunde sechzig Minuten
habe und daher sechzig mal so lang sei wie eine
Minute kommentierte sie trocken mit "Das versteh ich
nicht!" |
Kinder in diesem Alter bewegen sich noch unsicher im
Zahlenraum. Sie freuen sich, wenn sie korrekt zählen
können, also auch gelernt haben, dass 10 mehr sei als 2.
Für Maßsysteme mit Untereinheiten, wie Zeitangaben,
fehlen ihnen in der Regel die kategorialen
Voraussetzungen. Weshalb es auch mit Additionen und
Subtraktionen über die 10 hinaus noch nicht klappt, die
auch mit unterschiedlichen Einheiten ("Einer" und
"Zehner") operieren.
Mengen sind noch nicht bewußt qualitativ differenziert -
auch wenn jedes Kind in diesem Alter eine ganze Tafel
Schokolade fünf einzelnen Schokostückchen von dieser
Tafel vorziehen würde. Nebenbei ein Beispiel, womit dem
Kind unmittelbar anschaulich gemacht werden kann,
weshalb "2" auch einmal mehr sein kann als "10" -
abhängig von der Referenz. Ein ähnliches Problem haben
Kinder mit Geld. Wenn die Mama beim Kauf einer Brezel
zwei Euro gibt und einen Euro sowie zwei 10 Cent Stücke
zurückbekommt, ist das Kind erstaunt und findet, die
Mama habe ein gutes Geschäft gemacht.
Offensichtlich hatte Klara hier Schwierigkeiten damit,
"mehr" und "länger" im Blick auf Zeitangaben auseinander
zu halten. Ihren Protest unterstrich sie mit "wo doch 10
mehr ist als 2!" Dies könnten mit verursacht sein
dadurch, dass bei Zeitangaben durchaus auch die Angaben
"mehr" oder "weniger" gebräuchlich sind, etwa in "mehr
Zeit haben". Eine weitere Komplikation bringt die
doppelte Verwendung der Kategorie "Länge" sowohl für
räumliche wie für zeitliche Maße.
|
Zeitwahrnehmung. Zeitbegriff
WANN SIND WIR ENDLICH
DA? (4+)
Natürlich stellte das Kind diese Frage auf einer
Reise, einer Zugreise. Es war eine Reise zu einer
längeren Wanderung, einem "Pilgern mit Kindern". Es
stellte die Frage aber nur auf der Hinreise, nicht
auf der Rückfahrt (was für die Wanderung spricht)!
"Bald" ist keine Antwort, die hier sinnvoll ist.
Konkrete Gliederungen machen mehr Sinn - also z.B.
"noch fünf Haltestellen". Oder eine kleine
Beschreibung der Landschaften, die noch durchfahren
werden. In jedem Falle sollte aber eine
Beschäftigung angeboten werden, ein Spiel. Malen ist
gut geeignet für Bahnreisen - zur Not auch in der
kostenlos ausliegenden Bahnzeitschrift, die ganz
ungeahnte Beschäftigungspotentiale für Kinder bietet
(Malen, Schreiben, Falten, Ausschneiden, Fragen,
Kommentieren ...). |
Die Frage "Wann sind wir endlich da?" löst auf Reisen
die Frage "Wie lange dauert das noch?" ab. Zeit wird
zunächst mit der räumlichen Kategorie der Länge
bestimmt. Erst mit vier Jahren entwickelt sich ein
genaueres Verständnis von Zeit, das sich dann auch
sprachlich niederschlägt in häufigeren Klagen über
"Langeweile" und z.B. auch in der klassischen
Kinderfrage "Wann sind wir endlich da?".
Wann-Fragen erscheinen zumeist erst einige Zeit nach den
Wer-, Was-, Wo-, Wie- und Warum-Fragen, im vierten oder
fünften Lebensjahr. Sie sind allerdings keineswegs ein
Hinweis darauf, dass wir bereits von einem
differenzierten Verständnis zeitlicher Dimensionen
ausgehen dürfen. Im Zweifelsfalle greift das Kind noch
immer auf sein bewährtes "noch x-mal schlafen" zurück,
um eine zeitliche Größe zu erfassen.
Wir müssen akzeptieren, dass die Entwicklung des
Zeitbewusstseins beim Kind auch den Preis hat, dass es
sich nun langweilen kann. Möglicherweise haben viele
Gefährdungen des Menschseins durch sozial wenig
verträgliche Zerstreuungen, Süchte, "Laster" ihren Keim
im Zeitbewusstsein. Nicht also nur verengend "Müßiggang
ist aller Laster Anfang" sollte es heißen, sondern,
radikaler, "Zeit ist aller Laster Anfang".
|
Warum-Satzfragen. Autos. Statussymbole.
Groß-Klein
WARUM HAST DU DAS
AUTO GEKAUFT? (4+)
Wir steigen aus meinem Auto aus, sie steht vor dem
Auto, schaut das an und fragt "Warum hast du das
Auto gekauft?".
Ich erkläre, dass ich weit von einer
Straßenbahnhaltestelle entfernt wohne. Dass ich oft
Dinge transportieren muss. Sie nickt, fragt aber
weiter: "Und die Farbe?" Das sei meine
Lieblingsfarbe. Sie: "Ich mag Rot lieber!" |
Sie will mit dieser Frage gleich mehrere Dinge
verstehen. Zum einen beschäftigt es sie, dass ihre
Eltern kein Auto haben, obgleich sie gerne eines hätte,
ein möglichst großes. "Car sharing" fand sie kurz mal
interessant, aber da die Eltern es sehr selten nutzen,
sie wohnen sehr gut mit ÖPNV angebunden, ist das für sie
keine akzeptable Alternative. Zum anderen will sie auch
wissen, warum ich so ein kleines Auto habe. Und dann hat
sie auch schon mitbekommen, dass die meisten Autos
"unbunt" grau, schwarz oder weiß sind. Buntfarbig (grün)
wie das meine sind nicht viele.
Statussymbole spielen in ihrem Kindergarten keine
offensichtliche Rolle, viele Eltern bringen und holen
die Kinder mit dem Fahrrad, auch solche mit Auto. Die
Autos sind unterschiedlich groß, reine Protzautos fahren
nicht vor. Und doch hat das Kind eine Neigung zu großen
Autos. Ich halte das für - cum grano salis -
ursprünglich und nicht (nur) gelernt. Ich erinnere mich
an eine Situation, wie sie als Einjährige einen Korb mit
Weintrauben vor sich hatte, davon aß und dann gezielt
den größten Traubenhenkel herausfischte, diesen
bewundernd hochhielt und jauchzte: "Große! Alle essen!".
Einen anderen, von dem sie zuvor gegessen hatte, legte
sie beiseite, "Kleine weg" - nicht verächtlich, aber
sachlich klar.
Einige Tage davor hatte sie mich gefragt "Hast du schon
einmal ein Auto gekauft?" Die Frage zeigte, dass sie
noch keine klare Verbindung zwischen "Kaufen" und
"Besitzen" gezogen hat. Vielleicht hat das Konzept "Car
sharing" sie auch begrifflich unsicher gemacht. Und sie
hat auch mitbekommen, dass Großeltern Eltern ein Auto
geschenkt haben bzw. übergeben.
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Assoziationen. Wahrnehmungswelt. Fliegen
KÖNNEN STERNE
FLIEGEN? (4+)
Das Kind war zum ersten Mal geflogen, in den Urlaub
mit dem Vater. Es kam zurück und hatte vor allem
eines zu berichten: Dass es im Flugzeug Bonbons
bekommen habe. Weil ihm übel gewesen sei. Von denen
hat es welche mitgebracht. Und eines davon hatte es
gerade ausgepackt, im Auto, damit es ihm nicht übel
werde. Auf dem Bonbonpapier waren Sterne drauf.
Ich sagte: Wirf mal das Bonbonpapier in die Luft.
Das Kind tat es und lachte. Ich sagte: Siehst du,
Sterne können fliegen. "Nein, ich meine in Echt!"
protestierte das Kind, weiter lachend. Ich erklärte,
dass die Sterne durch das Weltall fliegen, wie die
Sonne auch und die Erde. "Die Erde fliegt auch?
Boah!" Es schaute neugierig zum Autofenster hinaus
und war beruhigt. Keine fliegende Erde zu sehen,
alles stabil. |
Das Gespräch kam von der Übelkeit im Flugzeug zur
Übelkeit im Auto und dass da Bonbons helfen. Ab Fünf
halfen dann Kaugummis. Denn Kaugummis sind attraktiver,
so was haben die "großen" Mädchen. Die können damit auch
Blasen machen. Die Cousine Monira zum Beispiel.
Kinder denken noch unbeschwert durch Kategoriensysteme
assoziativ, oft in überraschenden Ketten, wobei es von
den Sternen zu Bonbons und Flugzeugen und Autos und
Kaugummis und Cousinen und zurück zu den Sternen und von
dort zu Gott gehen kann. Das Große und das Banale liegen
eng beieinander, verknüpft durch die "Kette des Seins".
So entdecken und verstehen sie die Welt, wie die
Barockzeit in ihren Sammlungskabinetten, wo auch die
Vogelfeder neben dem Diadem lag - ganz wie in kindlichen
Schatzkammern mit ihren eigenen Ordnungssystemen.
Darüber hinaus verweist die Frage auf die Dominanz der
Wahrnehmungen über das Wissen. Sterne sind ebenso am
Himmel wie Flugzeuge, also liegt die Frage nahe, solange
sie noch keine genauere Vorstellung von den Sternen hat,
als die in Kinderbüchern und Liedern vermittelten. Und
bei "Lauras Stern" kommt der Stern ja auch immer wieder
mal zu Laura geflogen.
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Tier-Mensch. Fürsorge
HABEN DIE TIERE IHRE
KINDER LIEB? (4+)
Die Frage stellte Klara nicht im Zoo, sondern im
Naturkundemuseum Karlsruhe, bei den Dioramen. Und
zwar vor dem Adler, der gerade ein Murmeltier
geschlagen hat - auf meine Erklärung hin, dass der
Adler das Murmeltier jetzt zu seinen Kindern ins
Nest bringe, damit die was zu essen haben.
Ich antwortete mit "Ja". Klara fragte weiter: "Alle
Tiere?" - "Ja", denn für weitere Differenzierungen
schien es mir zu früh. Klara beschloss das Thema
lachend mit dem Satz "Wie der Mensch auch!" |
Die Antwort auf ihre Frage ergibt sich heute
selbstverständlich als "Ja". Dass nur der Mensch (als
"Krönung der Schöpfung") zur Liebe befähigt sei, wird
niemand mehr einem Kind erklären, auch wenn er/sie
philosophisch oder religiös dieser Meinung sein mag.
Die Frage steht für einen außerordentlich wichtigen
Schritt in der Entwicklung von Kindern, die Ausweitung
des Verantwortungshorizontes auf - emphatisch gesprochen
- "die Schöpfung". "Mitleid" mit Tieren gab es schon
früher, doch diese Frage verweist auf mehr. Nicht
Mitleid von Kind zu leidendem Wesen, sondern Verbindung
von Mensch zu Tier.
Das Mitgefühl für andere Menschen ging dem voraus, etwa
für Bettler/Obdachlose, auch wenn wir zur Annahme
neigen, die Tierliebe ginge bei Kindern der
Menschenliebe voraus. Wofür es durchaus auch Argumente
gibt, etwa das der solidarischen Nähe von Kinder zu
Tieren bezüglich der Abhängigkeit, oder die kulturell
eingespielte Verbindung von Kindern mit dem Tierreich
über Kuscheltiere, Bilderbüchern etc..
Mit dem "auch" in ihrem abschließenden Satz signalisiert
Klara, dass sie durchaus eine Vorstellung davon habe,
dass der Mensch eigentlich ein Tier sei, vielleicht ein
besonderes, aber doch eingeordnet, zugehörig. Dass Tiere
ihre Kinder lieben ist für sie keine Analogiebildung,
die vom Menschen ausgeht. Vielmehr ist offensichtlich
für sie die Kinderliebe einem Gemeinsamen zugehörig, das
die Tiere mit den Menschen verbindet.
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Tierkinder. Jagd
KINDER
DARF MAN NICHT SCHIEßEN!? (4+)
Wir waren im Naturkundemuseum bei den Dioramen.
Dort sind auch einige Tierfamilien zu sehen,
Wildschweine mit Frischlingen und eine Füchsin
mit Jungen z.B.. Klara wollte wissen, ob die
Tiere "mal gelebt" haben, "echt". Und ob "der
Jäger" die geschossen habe. "Das Kind aber
nicht!", denn "Kinder darf man nicht
schießen!?".
Ich erkläre ihr, dass das Rehkitz wahrscheinlich
von einem Auto überfahren wurde oder krank war
und dann gestorben ist. Dann habe der Jäger es
gefunden und zum Museum gebracht. |
Die Frage schwankt zwischen Feststellung, Forderung
und Frage. Die Vorstellung, ein Jäger habe das Rehkitz
erschossen, ist für sie empörend. Dass Erwachsene (Tiere
oder Menschen) erschossen werden, hält sie für durchaus
normal - einmal bezogen auf Tiere durch
Kindergeschichten, "Peter und der Wolf" etwa. Auf
Menschen bezogen kennt sie das direkt oder indirekt aus
den Medien. So berichtete sie mir einmal
("ich muss dir was sagen!") über "Mörder" in Amerika, die
ein "Schießeisen" haben und auch Babys erschießen. Das wisse
sie vom älteren Bruder einer Freundin, "das steht in der
Zeitung!"
Wir gingen oft ins Naturkundemuseum, und mit zunehmender
Welterfahrung und Intelligenz fiel ihr mit sechs Jahren
dann auf, dass die "süßen" Kücken bei den verschiedenen
Nest-Dioramen der Vögel wohl nicht alle bei einem Unfall
umgekommen sein können. Ihre ein Jahr ältere Freundin,
die einmal mit dabei war, erklärte auch unumwunden, dass
die "umgebracht" wurden vom Jäger. Und sie zeigte die
vermeintlichen "Schusslöcher", die allerdings lediglich
Gefiedermuster waren.
Eine grundsätzlich schwierige Situation, da ich
einerseits dem Kind die Sicherheit bewahren möchte, dass
Kinder einen besonderen Schutzstatus genießen. Ich
möchte ihm auch den Respekt vor Tieren bewahren und die
Verbundenheit mit Tierkindern, also keineswegs
argumentieren mit einem "das sind ja nur Tiere".
Andererseits soll es eine realistische Sicht auf die
Welt gewinnen und nicht belogen werden. Wie so oft (etwa
beim Weihnachtsmann und Osterhasen) kommt es seiner
eigenen Reifung entsprechend sukzessive zu ihm gemäßen
realistischen Einschätzungen.
|
Selbstbewusstsein. Selbstreflexion.
Ironische Distanz
WER IST DAS? (5-)
Kurz nach ihrem 5. Geburtstag hole ich Klara vom
Kindergarten ab. Sie setzt sich auf den Kindersitz
hinten und reckt sich dann zum Rückspiegel. Schaut
hinein und fragt "Wer ist das?" Sie meint
offensichtlich sich selbst.
Ich sage, "die Klara". Sie: "Das ist eine
Fünfjährige. Die muss ich mir mal genau anschauen."
Dabei lehnt sie sich nach vorne, näher zum Spiegel. |
Wir haben hier einen äußerst interessanten Hinweis
auf distanzfähiges Selbst-Bewusstsein, im Unterschied
zum Ich-Bewusstsein, das schon etwa mit Drei da ist.
Zugleich demonstriert sie hier einen klaren Sinn für
Ironie. Denn sie macht deutlich, dass sich eigentlich
mit dem fünften Geburtstag nichts für sie verändert
habe. Eine ähnliche Enttäuschung war schon beim vierten
Geburtstag zu spüren, jetzt setzt sie sich selbst zu
dieser Enttäuschung in eine ironische Distanz.
Sie begreift sich in diesem Alter auch zunehmend als
geschichtliches Wesen, weiß, dass sie mit fünf Jahren
eine völlig andere ist als sie mit zwei Jahren war. Sie
versteht aber auch, dass es keinen erkennbaren
Unterschied zwischen der Klara gibt, die gerade noch
Vier war, und der, die gerade Fünf geworden ist. Sie
schaut sich nun besonders gerne Videos von sich als
Zwei- und Dreijährige an. Diese Leidenschaft erreicht um
den siebten Geburtstag herum dann einen Höhepunkt. Sie
schaut dann nicht mehr nur mit Entzücken, sondern auch
nachdenklich bis analytisch auf die Filme von sich
selbst. Es müssen übrigens Filme sein, Bilder
interessieren sie nicht, nicht mir Fünf und schon gar
nicht mit Sieben. Mit Sieben spricht sie auch über sich
selbst als Zweijährige dann mit einer Charakterisierung,
die sie kurz vor ihrem dritten Geburtstag explizit
zurückgewiesen hat, "süß".
Mit gerade Fünf hat sie diese Distanz noch nicht, ist
sie sich selbst noch nicht begriffen geschichtlich
geworden. Und doch ist der Schritt dahin schon deutlich
angelegt, die Selbst-Reflexion ist schon im Gange, in
Gang gebracht durch die sprachliche Entwicklung, denn,
wie George Herbert Mead ausführte, "the language process
is essential for the development of the self".
|
Wortverständnis. Sinnverwandte Wörter
IST DAS WEIßE BLASS?
(5-)
Ich hatte gesagt, sie sei blass, ob ihr nicht gut
sei. Sie rennt zum Spiegel, schaut hinein und fragt
"Ist das Weiße blass?".
Die Antwort sollte klarmachen, dass "blass" einen
engeren Anwendungsbereich als "weiß" hat, etwa mit
dem Hinweis, dass man menschliche Haut, die von
Natur aus, bei wenig Sonnenschein im Winter oder bei
einer Krankheit sehr hell ist, "blass" nennt. |
Offensichtlich kannte das Kind das Wort "blass"
bereits, es wurde sicherlich auch schon selbst
gelegentlich so genannt. Nun nutzte es die Gelegenheit,
genauer zu verstehen, was es bedeutet. Es half sich
dabei selbst mit einer sehr klugen Vermutung, nämlich
dass das "Weiße" (ihre auffallend bleiche, helle
Gesichtsfarbe) mit "blass" gemeint sei. Bemerkenswert
ist hier zweierlei, zum einen, dass sie unmittelbar nach
einer Anschauung für den Begriff "blass" sucht, also
"begreifen" möchte und selbst eine Lösung findet (zum
Spiegel Rennen), um das Begreifen zu unterstützen. Zum
anderen wird deutlich, dass sie schon eine sehr klare
Vorstellung von ihrer eigenen äußeren Erscheinung hat,
dass ihr durchaus auch selbst auffällt, dass etwas
anders sei an ihrer Haut als üblicherweise, das "Weiße"
nämlich.
Hier kann auf die Gründe für die Blässe eingegangen
werden, etwa schwächere Durchblutung, weil gerade der
Bauch mehr Blut braucht, um wieder gesund zu werden. Bei
Bedarf und Interesse des Kindes kann das
Gesundheitsthema weiter ausgeführt werden. Eine ganz
andere Anknüpfung wäre der über die optische Dimension,
etwa durch Malen: Bleiche und fröhliche Gesichter malen
oder ähnlich. Oder Schminken. Auch auf die bräunende
Wirkung der Sonne kann eingegangen werden, auf die
Themen Pigmentierung und Ähnliches, die Sommersprossen
von Pippi Langstrumpf.
Sprachlich vertiefend können die Erwachsenen auch das
weitere Bedeutungsfeld von "blass", seine Stellung zu
"bleich" und "weiß" weiter ausführen und erklären, dass
manchmal verschiedene Wörter etwas Ähnliches benennen
aber ganz unterschiedliche Bedeutungen haben. Der Weg
zum Spiegel macht auch deutlich, warum Kinder noch
solche Schwierigkeiten mit übertragenen, metaphorischen
Bedeutungen haben. Sie benötigen die unmittelbare
Anschauung, um Bedeutungen zu verstehen, ihre Semantik
ist erst im grundlegenden Aufbau, auch wenn sie Sprache
oft schon vermeintlich souverän einsetzen.
|
Kinderbuch-Realität. Wunschbild. Zweifel
IST PIPPI
LANGSTRUMPF EIN MENSCH? (5-)
Eigentlich interessierte sie Pippi Langstrumpf
nicht mehr so sehr. Inzwischen fühlte sie sich
selber stark. Aber ich sollte doch mal wieder
eine Pippi-Langstrumpf-Geschichte vorlesen. Es
war die Geschichte, in der Pippi Fliegenpilz
isst. Sie warf ein, dass man das eigentlich
nicht darf. Aber Pippi könne das. Und dann die
Frage: "Ist Pippi Langstrumpf ein Mensch?"
Ich erklärte ihr (wieder einmal), dass Pippi
eine Erfindung sei. "Aber hat sie mal gelebt?"
Ich halte mich an den alten Goethe und berichte
ihr, dass Astrid Lindgren sicherlich Kinder
gekannt habe, die manche Eigenschaften von Pippi
hatten. Und vielleicht war Astrid Lindgren als
Kind auch ein bisschen wie Pippi - oder sie wäre
gerne so gewesen. |
Dass Pippi Langstrumpf wirklich ein Pferd hochheben
kann, hatte Klara etwa ein Jahr lang geglaubt. Mit Fünf
schwankt sie nun zwischen der Einsicht, Pippi sei nur
"erfunden", und der Vermutung, Pippi sei kein "normaler"
Mensch. Mit Drei und Vier glaubte sie an die Macht von
Pippi nicht, weil sie an Magie glaubte, sondern weil sie
es wunderbar fand, ein solch starkes Vorbild zu haben,
ein Kind, das es mit Räubern, Haifischen und bösen
Erwachsenen aufnehmen kann. Wenn dies magisches Denken
ist, gut. Doch "Superman"-Comix werden auch von
Erwachsenen gelesen.
"Ich wär auch gern so gewesen", der Satz kam ganz flugs, mit
einem Lachen, als ich meinte, dass Astrid Lindgren
vielleicht gerne wir Pippi gewesen wäre. Aber dann kommen
Zweifel in Klaras Gesicht. "Aber die Pippi war schon ein
bisschen verrückt, oder?" Und dann gibt sie auf ihre erste
Frage, ob Pippi ein Mensch sei, selbst eine Antwort:
"Vielleicht war sie ja ein verzaubertes Kind!" Mit einem
vergewissernd angefügten "Zaubern geht aber nur im Spiel,
oder?" Das Alter der Zweifel, des Hinterfragens beginnt, sie
wischt das aber schnell weg und will "Sport" machen,
Handstand, Radschlagen, Kissen werfen. Womit sie zeigt, dass
sie auch lernt, mit Inkohärenzen umzugehen, indem sie diese
aushält.
|
Üben. Älter werden. Schulreife
HAT DAS MÄDCHEN
GEÜBT? (5-)
Das Kind sieht ein älteres Mädchen auf einem Einrad
fahren und stellt die Frage "Hat das Mädchen
geübt?". Und ich verstehe wieder einmal zunächst
überhaupt nicht, was das Kind meint.
Ich erkläre also, das Mädchen habe sicher schon
lange geübt, denn auf einem Einrad zu fahren sei
schon schwieriger als auf einem Rad mit zwei Rädern
zu fahren. Klara nickt respektvoll. Eine Debatte
über Einrad und Zweirad bleibt mir erspart, das Kind
merkt nur an, dass auf einem Kinderrad zu fahren ja
"babyleicht" sei. |
Das Konzept "Üben" ist für Kinder keinesfalls auf
Anhieb verständlich. Sie machen ursprünglich die
Erfahrung, dass sie immer wieder Neues können, ohne
geübt (zumindest ohne bewusst geübt) zu haben. Und bei
den Kleineren um sich herum sehen sie auch nicht, dass
die üben. Die können irgendwann laufen, weil sie
größer/älter geworden sind, nicht weil sie geübt haben.
Ebenso verhält es sich mit dem Sprechen. Zumindest
stellt es sich so dar, und die Erwachsenen sagen das ja
auch bisweilen: Das kannst du, wenn du groß bist. Warum
also sollte das Kind üben? Es kommt doch alles mit dem
Älterwerden von alleine, ganz einfach.
Daher auch (zumindest zum Teil) das Widerstreben der
Drei- und Vierjährigen, wenn sie sich z.B. ans Klavier
setzen sollen um zu üben. Zudem haben sie ein ganz
gesundes Empfinden dafür, dass sie am Besten lernen,
wenn ihnen etwas Spaß macht, spielerisch. Also Vorsicht,
liebe Erwachsene, mit einem zu frühen "du musst noch
üben".
Erst mit etwa fünf Jahren können Kinder überhaupt im
Ansatz verstehen, was Üben bedeutet. Und das gehört
sicherlich entscheidend mit zur Schulreife. Denn was tut
man in der Schule zunächst vor allem? Üben! Auch wenn zu
hoffen ist, dass dies häufig spielend geschieht. Dass es
nicht nur spielend geschehen muss, zeigt das Kind
selbst, das in diesem Alter bewusst beginnt, Dinge zu
wiederholen, die es können möchte, also zu "üben" - auch
schon mal verbissen, so dass man es bisweilen stoppen
muss, wenn es sich gefährdet, z.B. durch riskante
Handstandüberschläge auf Beton.
Allerdings hat Klara mich kurz vor ihrem sechsten
Geburtstag noch damit überrascht, dass sie erklärt haben
wollte, warum und was ein Kinderchor, der Beethovens
Lied vom Marmottenbuben singt, geübt habe. Dass sie das
Singen geübt haben, findet sie nicht einleuchtend, dass
sie geübt haben, wo jedes einzelne Kind auf der Bühne
steht, schon. "Üben" hat also noch eher mit
"Verabreden", "Absprechen", "Probelauf" zu tun als mit
wiederholtem Tun. Klavier "üben" ist ihr auch mit Sechs
noch immer eher ein Graus; sie will zeigen, was sie
schon kann, nicht üben. Um den siebten Geburtstag herum
wird das Üben allmählich eine dem Kind selbst
einleuchtende Option.
|
Wahrnehmungswelt. Entfernungsmaße und
Zeitmaße. Wortbedeutungen
WARUM IST
DER FLUSS LANG? (5-)
Wir standen am Rhein, etwas nördlich von
Karlsruhe, wo man in der flachen Landschaft
schon das Meer ahnen kann, dem die schweren
Lastkähne zutreiben - wo man aber auch noch um
die Berge weiß, von denen dieses Wasser kommt.
Ich verstand die Frage nicht. Klara insistierte,
"Warum ist der Fluss lang?". Schließlich erfuhr
ich, dass ein anderes Kind im Kindergarten,
eines von den "Schulanfängern", die anderen nach
dem längsten Fluß auf der Welt gefragt habe.
Ich zeige ihr, dass ihre Haare länger sind als
meine. Und erkläre, der Rhein sei länger als
z.B. die Alb, die vor ihrem Kindergarten vorbei
fließe. "Hört der mal auf?" Ich erkläre ihr,
dass der Fluss ins Meer fließe und da sei er
dann zu Ende. Sie will nicht wissen, wo er
anfange - aber das hat ja auch noch Zeit.
|
Offensichtlich konnte das Kind mit der Länge eines
Flusses nichts anfangen. Länge kannte und verstand es
bisher primär als Zeitangabe. "Wie lang dauert das
noch?" Distanzen, Entfernungen hatten mit "weit" zu tun:
"Wie weit ist es bis zur Oma" zum Beispiel. Und das war
auch eher zeitlich gedacht ("wir müssen ganz lang im Zug
fahren bis zur Oma"). Dass ein Fluss "lang" sein kann,
war ihm völlig unverständlich. Zumal es ja weder Anfang
noch Ende sehen konnte, der Begriff nicht einmal
anschaulich gemacht werden konnte. Dass Haare "lang"
sein können, und Kleider, weiß es und sieht es, das sind
etablierte Sonderfälle neben den Zeitbestimmungen - aber
ein Fluss?
Peter Handke schreibt in seiner "Kindergeschichte":
"Wenn es dann zu Hause dastand und die für den folgenden
Tag verlangte Länge irgendeines Flusses oder Höhe eines
Berges aufsagte, dachte der Mann immer wieder, nie dürfe
vergessen werden, und bis ans Ende der Zeiten müsse
überliefert werden, mit welch weitaufgerissenen,
schreckstarren Augen die Kinder der Erde das sogenannte
Wissen der Menschheit rezitierten." (Seite 75)
Handkes "Kindergeschichte" kommt ohne eine einzige
Kinderfrage aus. Es sind "die vielgeschmähten großen
Wörter" (Seite 50), die Handke am Kind bemerkt und vom
Kind wieder schätzen lernt. Wie das Kind hebräische
Schriftzeichen malt und Französisch erwirbt berichtet
der Autor - doch keine Kinderfrage nennt er, nur die
Fragen, die sich der alleinerziehende Vater stellt, zu
seiner Funktion, zum Kind, zur Gesellschaft.
Hier also geht es auch letztlich um ein Wort, ein
einfaches Adjektiv, für das Kind aber plötzlich
problematisch: Was bedeutet eigentlich "lang" bei einem
Fluss? Sie sieht ja weder seinen Anfang noch sein Ende.
|
Rhetorische Fragen. Selbstbewusstsein.
Lächerlichkeit
WAS IST DARAN LUSTIG?
(5-)
Klara hat sich die Lippen geschminkt, stolz
kommt sie mit schräg gefärbten Lippen und
verkündet: "Ich bin eine Frau!". Der Erwachsene
lächelt, kann mit Mühe ein Lachen unterdrücken.
"Was ist daran lustig?" kommt die leicht empört
vorgetragene Frage.
Der Erwachsene weiß, dass das Kind sich nicht
ernst genommen fühlt und antwortet mit einem
sachlichen Argument, dass der Lippenstift etwas
verrutscht sei und man das gemeinsam korrigieren
könne. Das Kind akzeptiert, bringt den
Lippenstift der Mutter und meint: "Aber nicht
wie ein Clown! Wie eine Frau!" |
Das Kind war schon früh sehr
empfindlich, wenn es den Eindruck hatte, dass von
Erwachsenen "über es" gelacht wurde. Bislang hatte es
sich dann mit Schimpfen oder Weinen gewehrt. Nun hat
es ein rhetorisches Mittel gelernt, sich zu
verteidigen. Damit ist es auch souveräner in diesen
Situationen geworden. Denn mit Schimpfen und Weinen
hat es sich oft auch selbst in ein Beleidigtsein
hinein manövriert, aus dem es nur schwer wieder
herausfand und das ihm selbst dann leid tat. Mit sechs
war das Thema dann erledigt, da kam dann sachlich die
Frage, "warum lachst du?". Und mit Sieben lachte Klara
mit, wenn sie es sachlich akzeptierte.
Mit dem neu erworbenen Satz kommt es zugleich
auf Augenhöhe mit den Erwachsenen, die in
vergleichbaren Situationen ja in der Regel nicht
schimpfen oder weinen, sondern mit Sätzen wie diesem
vom Kind nun gelernten reagieren - es sei denn, eine
wirkliche Beleidigung durch ein Auslachen liege vor,
auf das auch Erwachsene bisweilen mit Schimpfen
reagieren.
Bemerkenswert auch, dass der Satz "WAS IST
DARAN LUSTIG?" etwa gleichzeitig mit der ersten
Differenzierung von "lustig" und "lächerlich" kommt.
Das Kind benutzt das Wort "lächerlich" hier noch
nicht, aber das Konzept ist offensichtlich da, sie
schaut öfter Erwachsenen zu, die in einer unerwarteten
Situation die Haltung verlieren und erklärt dann, das
sei "lustig" gewesen. Ohne Boshaftigkeit, aber mit dem
offenkundigen Bewusstsein, dass dieses "Lustige"
ambivalent ist, der andere es durchaus nicht als
lustig empfindet.
Bemerkenswert ist auch die Differenzierung
des Schminkens in ein auf "lustig" hinzielendes
Schminken - das zum "Clown" - und ein auf "schön"
hinzielendes - das "wie eine Frau".
|
Religion. Prima Causa. Menschenwerk
WER HAT DIE MENSCHEN
GEMACHT? (5-)
Das Kind ist in vergnügter Stimmung, klettert auf
einem schmiedeeisernen Geländer, lobt das Geländer,
wie toll das gemacht sei. Dann kommt aus heiterem
Himmel der Satz: "Der liebe Gott hat alles gut
gemacht!" Ich möchte eine Lanze für den Humanismus
brechen und bemerke: "Das Geländer haben aber
Menschen gemacht." Darauf das Kind mit Nachdruck:
"Und wer hat die Menschen gemacht?"
Ich erkläre: "Dich haben der Papa und die Mama
gemacht." Was ihm nicht genügt: "Und ganz früher?
Ich mein, alle Menschen?" Ich versuche mich in einer
Andeutung der Evolution. Das Kind schaut mich groß
an, wendet sich ab und singt. |
Die Idee des Kindes scheint zu sein:
Wenn die Menschen selbst nur "gemacht" sind, ist es
dann sinnvoll, die Menschen für ihre hübsch
geschmiedeten Geländer und dergleichen zu loben?
Muss man nicht besser den "Menschenmacher" loben?
Das Kind scheint nicht wirklich eine verbindliche
Antwort zu erwarten. Es ist offensichtlich vergnügt
mit der gedanklichen Möglichkeit, dass es niemandem
für die Benutzung des Geländers Rechenschaft
schuldig sei als "Gott" selbst. Damit bewegt es sich
auf dem Terrain anspruchsvoller theologischer
Debatten und sozialer Gerechtigkeitskonzepte.
Die Frage nach dem Ursprung der Menschen ist eine
der Fragen, die sich für eine Rückfrage an das Kind
besonders anbieten: "Was meinst du, wer die Menschen
gemacht hat?" Denn die Erwachsenen wissen das ja
selbst nicht so genau. Nicht nur bei dieser Frage
sollten wir uns an das Sokratische "Ich weiß, dass
ich nichts weiß" erinnern. Und öfter mit dem Kind
gemeinsam nach einer Antwort suchen. Keiner
endgültigen, sondern einer, die das Kind aktuell
zufrieden stellt.
Einige Wochen später kommt die Frage nochmals im
Naturkundemuseum, als ich ihm erkläre, dass es zur
Zeit der Flugsaurier noch keine Menschen gegeben
habe. Dann müssen die ja irgendwann "gemacht" worden
sein, nach den Flugsauriern, so offensichtlich seine
Überlegung. Ich biete erneut einen kleinen Exkurs
zur Evolutionstheorie an, dass es in der
Flugsaurier-Zeit kleine Mäuse gegeben habe, die sich
in ganz ganz langer Zeit in andere Tiere verwandelt
haben, die alle ihre Babys im Bauch tragen. Und
irgendwann seien dann wir gekommen. Dieses Mal hört
sie schon aufmerksamer zu.
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Missverständnisse. Semantik
IST DA IM BAUCH EIN
MESSER? (5-)
Es ging um "Verdauung". Anlass war ein Besuch im
Zoo. Die Alpakas lagerten am Abend auf ihrer
Wiese. Das Kind, damals gerade Fünf geworden,
wollte wissen, ob die schon schlafen. Da einige
Tiere erkennbar am (Wieder-)Käuen waren, sagte
ich: "Nein, die verdauen jetzt." Das Kind: "Was
ist das, verdauen?"
Ich erklärte: "Beim Verdauen wird die Nahrung im
Magen noch kleiner gemacht als das die Zähne
können." Das Kind schaute mich an, ging weiter,
blieb stehen, fasste sich an den Bauch und
fragte: IST DA IM BAUCH EIN MESSER?
So kamen wir zur Magensäure und den
verschiedenen Möglichkeiten, Dinge zu
zerkleinern und aufzulösen. |
Wir Erwachsenen vergessen oft, dass Kinder keineswegs
den Wortschatz schon vollständig beherrschen, den sie
anscheinend souverän handhaben. Es mag ja sein, dass
eine Dreijährige schon das Wort "verdauen" verwendet.
Aber erst mit Fünf erkennt sie dann, dass sie nicht
wirklich weiß, was damit gemeint ist. Also ist es wenig
hilfreich, wenn der Erwachsene erklärt: "Das Wort
'verdauen' kennst du doch schon". Das Kind kann
vielleicht das Wort richtig anwenden - aber verstehen,
was damit gemeint ist, geht darüber hinaus.
Anwendungswissen und Erklärungswissen sind zweierlei.
Hier zeigen sich nebenbei auch die Grenzen der
linguistischen Erklärung der Semantik über
Anwendungswissen. Anwendungsbedingungen sind eine
notwendige, jedoch keine hinreichende Begründung von
Bedeutung.
Daher ist es völlig "normal", wenn Kinder im Alter von
Fünf plötzlich wieder nach Dingen fragen, die sie im
Alter von Zwei schon gefragt haben. Wollten sie damals
Wörter lernen, so möchten sie nun die Bedeutung der
Wörter begreifen. Der Schritt ist der vom "Wie heißt
das?" zum "Was bedeutet das?" Im konkreten Fall: Was
bedeutet "verdauen"?
Ich wollte dann noch mit den Unterschieden in der
Leistung von Magen und Darm fortfahren, aber das Kind
war erst einmal froh, im Bauch kein Messer zu haben. Das
mit der Flüssigkeit im Bauch, die Essen zerkleinert, war
doch schon merkwürdig genug. Interessanter fand es
ohnedies dann, was die Alpakas in der Nacht machen (wenn
sie, wie es schien, schon den ganzen Tag herumlagen) und
ob die kleinen Alpakas bei der Mama schlafen.
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Persönliche Fragen. Soziale Rollen und
Beziehungen. Kontextualität
BIST DU ÜBERHAUPT
IRGENDWO ONKEL? (5-)
Ich hole Klara gelegentlich vom Kindergarten ab. Die
anderen Kinder fragen mich, ob ich der Onkel sei.
Ich verneine, erkläre, dass ich ein Freund der
Eltern sei. Da werfen die anderen Kinder Klara vor,
sie habe gelogen. Ich erkläre ihnen, dass "Onkel"
verschiedene Bedeutungen habe, Klara habe vielleicht
gemeint "Freund". Später fragt das Kind "Bist du
überhaupt irgendwo Onkel?"
Ich erkläre, dass mein Bruder Kinder habe, deren
Onkel sei ich. Und füge hinzu, dass der Bruder ihres
Vaters ihr Onkel sei. Und komme weiter zu den
Tanten. Aber das Kind will das gar nicht wissen. Das
eigentliche Thema war nämlich, wie ich selbst
einzuordnen sei. Es war eine durchaus "persönliche"
Frage, zu denen Kinder in diesem Alter nun fähig
werden. |
Soziale Rollen werden um den fünften Geburtstag herum
wichtig. Der Schutzraum Kindergarten wird mental bereits
verlassen, die Welt 'draußen' wartet auf das Kind; Papa
und Mama, Oma und Opa sind nicht mehr die dominierenden
sozialen Bezugspunkte. Bald werden Lehrer und
Lehrerinnen, Freunde und Freundinnen stärkere
Repräsentation in der kindlichen Psyche finden. Und das
Kind zeigt mit seinem "Wo?", dass es die zentrale
Bestimmung sozialer Rollen verstanden hat: die
Kontextabhängigkeit! "Bist du irgendwo X" macht ganz
wörtlich Sinn.
Zum Themenbereich sozialer Rollen gehören auch vorläufig
noch tastend gestellte Fragen wie "Arbeitest du auch?"
oder "Wo bestimmst du?". Wobei klar Fragen mitschwingen
wie "Was bedeutet eigentlich 'Arbeiten'?" oder, zurück
zur Beispielfrage, "Was bedeutet eigentlich 'Onkel'?".
Denn dieses Wort "Onkel" begegnet dem Kind in
verschiedenen Bedeutungen, für einen
Verwandtschaftsgrad, für einen Bekannten/Freund der
Eltern, eventuell auch von älteren Generationen
gebraucht in der Formulierung "böser Onkel" oder aber
für männliche Wesen allgemein, die nicht näher bekannt
sind.
Die Kategorie "böser Onkel" (auch "böse Tante" ist
bisweilen gebräuchlich) hat dazu geführt, dass heute
"Onkel" fast nur noch als Verwandtschaftsbezeichnung
anzutreffen ist. Dennoch wird die Bezeichnung nach wie
vor auch allgemeiner verwendet - in Ermangelung
passender Alternativen. "Patenonkel" oder
"Patentante" sind Kategorien, die dem Dilemma entgehen.
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Eröffungsfragen. Alter. Generationen
BIST DU ÄLTER ALS DIE
MAMA? (5-)
Klara stellte die Frage nach einem Gespräch über
ihren Besuch mit den Eltern bei Oma, Opa und den
Cousins.
Meine Antwort war schlicht "Ja". Daraufhin erklärte
sie mir, dass ich früher Opa werde als die Mama Oma.
Das gelte auch für den Papa, der gleichfalls älter
sei als die Mama. Und der Nachbarsjunge, der älter
sei als sie, werde natürlich vor ihr Opa. |
Kleinere Kinder bezeichnen alle Grauhaarigen als
"Opa" und "Oma", auf der Basis einfacher optisch
dominierter Assoziationen. Danach kommt die Dominanz der
sozialen Rollen, Opa und Oma ist, wer Enkel hat. Das
Kind jetzt sieht die Generationenbegriffe in größeren
Kontexten (Oma-Mama-Enkelin) und versucht, sie mit
Altersbeziehungen zu verbinden. Der
Kohärenzdruck führte Klara gar zu der abenteuerlichen Frage,
ob ich, wenn ich noch älter werde (im Sinne von "noch mehr
älter als die Mama"), dann ihr Opa sei. Die Logik des
Systems hätte es ermöglicht, diese Frage auch dem eigenen
Vater zu stellen, der ja auch älter ist als die Mama.
Dann erklärte Klara "Ich bekomme bestimmt Kinder!". Und zur
Vervollständigung ihres Systems führte sie aus "Wenn ich
heirate, klar!". Kinder bekommen ist also nicht nur an
höheres Alter gebunden, sondern auch an eine soziale
Struktur. Und abschließend skizzierte sie ihre
eigene Entwicklung wie folgt: "Erst werde ich Schulkind,
dann Erwachsener, - stockt - dann Jugendlicher, dann
Oma." Ganz korrekt ist das noch nicht, aber die Tendenz
- und die Denkleistung dahinter - ist unübersehbar, die
Tendenz zu historischer Einordnung.
Die eigentlich schlichte Frage verweist damit auf einen
wesentlichen Entwicklungsschritt, der die eigene
Existenz sowohl altersbezogen als auch
generationenbezogen einordnet in ein komplexes soziales
Gefüge. Vor zwei Jahren hat sie noch empört abgelehnt,
dass die Oma die Mama der Mama sei, "das will ich
nicht!".
Sprachpragmatisch verlässt die Frage nach der
Altersrelation bereits deutlich den Bereich der
Antwortsuche. Das Kind will mit der Frage eigenes Wissen
ins Spiel bringen und erproben. Offensichtlich hatte es
bei Oma und Opa Alters- und Verwandtschaftsbeziehungen
erörtert.
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Frageketten. Tier-Mensch-Verhältnis. Füttern
WER HAT DIE SAURIER
GEFÜTTERT? (5-)
Eine Frage bei den
Flugsaurier-Rekonstruktionen im Naturkundemuseum,
gestellt im Gefolge der Fragen "Hat es die wirklich
einmal gegeben?" und "Was haben die gefressen?".
Auf die Antwort, dass die andere Tiere gefressen
haben, kam die Rückfrage: "Auch Menschen?" Auf die
Erklärung, dass es damals noch keine Menschen
gegeben habe, folgte Irritation. Und kurz darauf die
Frage "Wer hat die dann gefüttert?" |
Kinder erleben Tiere heute vor allem als Haustiere
und in Zoos. Gelegentlich auch in der Landwirtschaft,
bei Ferien auf dem Bauernhof oder wenn die Eltern einen
Hof mit Tierhaltung haben. Überall werden die Tiere da
gefüttert. Auch die Großkatzen im Zoo jagen ihr Fleisch
nicht selbst, es wird ihnen gebracht. Ebenso den Echsen
im Naturkundemuseum die Schnecken, den Schlangen die
Mäuse. Die Vorstellung, dass Tiere auch ohne den
Menschen leben konnten und können, ist eher abstrakt für
das Kind. Selbst die Tiere in freier Wildbahn sind für
das Kind ja meist mit einem Menschen verbunden, dem
Jäger. Solche Erfahrungen haben kulturell bereits zu
einer Verschiebung im Verhältnis Mensch-Tier geführt.
Genannt werden in der Forschung etwa die Ausblendung der
Tötung von Tieren durch Tiere und die mentale
Domestikation der Wildtiere. Bis hin zu Konzepten wie
dem "Paradise Engineering" von David Pearce, die Tieren
das Jagen genetisch aberziehen wollen.
Auffallend ist hier die massive Inkongruenz in den
Äußerungen des Kindes. Die Frage, ob die Flugsaurier
Menschen gefressen haben, ist kaum zusammen zu bringen
mit der Vorstellung, die Flugsaurier seien von Menschen
gefüttert worden. Hier stehen erkennbar zwei
unterschiedliche Weltdeutungen des Kindes nebeneinander,
eine anthropozentrische, eher auf Harmonie und
Bilderbuchstimmigkeit abzielende, und eine offene,
antagonistische, von Abenteuergeschichten und
Schauererzählungen ("Räuber" und Co.) gespeiste. Beide
stehen häufig auch bei Erwachsenen im Widerstreit,
werden jedoch in der Kommunikation nicht derart
unvermittelt gegen einander geführt.
Die Frage ist auch interessant als Teil einer
Fragenkette, die jeweils aus der Antwort eine weitere
Frage ableitet. Wobei die Einstiegsfrage an die aktuelle
Situation, an das dem Kind vor Augen Stehende anknüpft,
die letzte Frage wieder den damals gegebenen Kontext des
Naturkundemuseums (in welchem auch Beutegreifer in
Vivarien leben) aktiviert.
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Individuelle Merkmale
HAST DU
EINE ANDERE STIMME? (5-)
Ich war erkältet und meine Stimme klang deutlich
tiefer. Dem Kind ist das sofort aufgefallen und
es fragte "Hast du eine andere Stimme?".
Die Erklärung kann darauf hinweisen, dass nicht
nur Erkältungen, sondern auch "Stimmungen" die
Stimme verändern. Es kann nachgefragt werden, ob
das Kind selbst immer die gleiche Stimme habe.
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Belegbar können Kinder bereits als Säuglinge,
vermutlich sogar schon im Mutterleib, Stimmen
unterscheiden. In der Kindesentwicklung gehört die
bewußte Registrierung individueller und situativer
Verschiedenheiten in der Stimmlage von Menschen jedoch
zu einer relativ späten Stufe, in der dann auch erste
Bewertungen (gefällt mir, gefällt mir nicht, mag ich,
mag ich nicht) auftreten. So hat Klara mit gerade Vier
auf die Stimme von Joe Cocker mit der Frage reagiert, ob
der "sauer" sei.
In den ersten beiden Jahren war für das Kind die Stimme
an Erwachsenen wesentlich für das Erkennen und
Vertrautsein. Ich durfte meine Stimme z.B. nicht
verstellen wenn ich was erzählte, oder um für
Spielfiguren zu sprechen. Noch mit eineinhalb Jahren hat
sie es energisch zurückgewiesen, wenn ich für ihre Puppe
gesprochen habe. Einige Monate später allerdings hat sie
dann begeistert reagiert, wenn ich meine Stimme
verstellt habe, um für Puppe oder Plüschtier zu
sprechen. Sie wollte das dann auch zügig erweitert hören
auf Gegenstände und hat selbst dann auf eine Jacke
gehauen und für die Jacke "Auaaua" gerufen. Es dauerte
dann aber noch etwa ein Jahr, bis sie selbst mit
verstellter Stimme für Bär oder Puppe sprach! Damit
verbunden waren das Lernen von Rollenübernahmen, die
ersten theatralischen Neigungen.
Mit sechs überrascht sie mich mit der Bemerkung zu einem
Kleidungsstück von mir: "Das riecht wie du!" Nun wissen
wir, dass bereits Babys die Mutter auch am Geruch
erkennen. Der Geruch dürfte für die Bindung an Personen
eine wichtige Rolle spielen, vermutlich eine wichtigere
als die Stimme. Wir alle wissen, wie sehr auch
Erinnerungen an Gerüche gebunden sind, nicht erst seit
den Madeleines von Marcel Proust ("Auf der Suche nach
der verlorenen Zeit"). Die Geruchswahrnehmung ist im
stammesgeschichtlich ältesten Gehirnteil angesiedelt.
Allerdings habe ich noch von keinem Kind gehört, "du
riechst aber heute ganz anders".
Bemerkenswert ist, dass das Kind hier die Stimme
offensichtlich nicht als einen wesentlichen Teil der
Persönlichkeit ansieht. Impliziert ist in der Frage ja
auch die Vorstellung, dass Erwachsene nicht nur Kleidung
und Frisur, sondern auch die Stimme einfach wechseln
können.
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Konstatierende Frage. Wahlen.
Politik. Werbung
DIE WILL
WOHL UNBEDINGT GEWINNEN!? (5-)
Es ist Wahlzeit, Klara sieht in der ganzen Stadt
die Wahlplakate, bekommt auch Erklärungen dazu,
was da los sei. Als sie das Plakat einer
bestimmten Kandidatin öfter sieht in der Nähe
ihres Kindergartens meint sie einmal DIE WILL
WOHL UNBEDINGT GEWINNEN!?
Hier kann ein Gespräch über Politik, Demokratie,
Wahlen und Wahlkampf angeknüpft werden. Aber
zurückhaltend, das Thema ist für ein Kind in
diesem Alter vor allem in einer Hinsicht
interessant: Wer bestimmt über was. Das Prinzip
der Repräsentation habe ich erklärt über die
Entlastung von Papa und Mama, die ja nicht
dauernd sich auch Gedanken machen können über
Kindergärten, Spielplätze, Straßen. |
Eine der sehr "erwachsenen" Äußerungen in dieser
Phase. Das Kind kann hier seine eigenen Erfahrungen beim
Spielen mit anderen Kindern übertragen auf ein
Erwachsenenphänomen, den Wahlkampf. Dies bedeutet einen
wichtigen Brückenschlag zwischen der Welt der Kinder und
der der Erwachsenen. Seht her, auch die Erwachsenen
wollen doch gerne gewinnen, lautet die implizite
Botschaft an ihre eigene Welt. Zugleich ist aber auch
eine kritische Distanz zu diesem Aspekt des Gewinnen
Wollens spürbar. Einmal meint sie beim Anblick der
Plakate "Die nerven!", ein andermal "ich kenn die aber
gar nicht!". Ob man im Gespräch hier eher
auf Politik oder auf Wahlkampf/Werbung abhebt, hängt von den
Umständen und vom Kind ab, beides bietet sich an. Ich habe
eher den politischen Aspekt angesprochen. Doch bei meinen
Ausführungen zu Repräsentation und Demokratie
interessierte sie vor allem eines, "Und wer bestimmt
dann?" Auch wenn ich von meiner eigenen politischen
Arbeit erzähle, will sie vor allem wissen, wo ich
"bestimme". Der Themenbereich "Bestimmen" kam im 5.
Lebensjahr auf und hielt noch die ganze Grundschulzeit
über an, mit einem weiteren Hoch im 10. Lebensjahr.
Dass jemand anderer den Papa und die Mama vertritt bei
politischen Entscheidungsprozessen, befremdet sie. Als
ich erkläre, dass der Papa und die Mama sonst noch viel
öfter nicht zuhause sein könnten, wenn sie immer selber
entscheiden müssten, ob eine Straße gebaut wird oder
eine neue Schule, findet sie das mit der Repräsentation
dann doch ganz gut. Auch wenn sie der Aspekt des
"Gewinnens/Verlierens" bei einer Wahl (und auch bei
demokratischen Abstimmungen) noch weiter beschäftigt.
"Und wenn man verliert?" Sie findet dann aber selber die
Antwort, die so ähnlich manchmal Politiker sich geben,
meist erst am Ende der Karriere: "Dann kann die Frau
wieder mit ihren Kindern spielen!".
|
Pflanze-Tier-Unterschied. Ordnung der
Dinge
IST DAS EIN TIER?
(5-)
Die Frage "Ist das ein Tier?" stellte Klara
wiederholt zu den Korallen im Naturkundemuseum
Karlsruhe, für die das Museum unter anderem bekannt
ist. Seit ihrem vierten Geburtstag beschäftigten
diese Wesen sie immer wieder. Mit Fünf war ihr auch
schon ganz klar durch eigenes Urteil, welches
Kalkgebilde auf dem Ausstellungstisch zu welcher
Koralle im Aquarium mit der Muräne gehörte.
Es genügt, ihr zu sagen: "Ja, das ist ein Tier". Und
zu erklären, dass es manchmal schwierig sei, Tiere
und Pflanze zu unterscheiden - dass ganz einfache
Tiere oft wie Pflanzen aussehen. Die Seegurke ein
paar Aquarien weiter heißt sogar wie eine Pflanze.
Sie kann sich aber vom Platz bewegen, im Unterschied
zur Koralle, die auch Blumentier heißt. |
Für Kinder in diesem Alter ist es einerseits
wichtig, klare Zuordnungen zu treffen, das ist Tier, das
ist Pflanze. Andererseits können sie durchaus damit
umgehen, dass es einen Bereich der Unklarheit gibt,
Pflanzen mit Tiereigenschaften (fleischfressende
Pflanzen z.B.), aber auch Tiere mit
Pflanzeneigenschaften (Korallen z.B.). Hier helfen
Bezeichnungen, die als Brückenschlag dienen, wie
Seegurke, Seeanemone oder Blumentier. Auf der anderen
Seite haben wir fleischfressende Pflanzen. Allerdings
sind Kleinkinder noch primär am Sammeln von
naturkundlichem Wissen, die Systematik sollte sie nicht
überfordern, also nicht unbedingt gleich noch mit den
Pflanzen kommen, die Tiereigenschaften haben, sondern
anschauungsnah bei den Tieren mit Pflanzeneigenschaften
bleiben.
Die Frage nach der Grenze zwischen Pflanzen- und
Tierreich ist eine der Grundfragen der Biologie. Von
einem Kleinkind gestellt zeigt diese Frage, dass es
beginnt, Begriffe zu lernen, dass es nicht mehr
zufrieden damit ist, den Wortschatz nur zu erweitern,
nur Namen und Etiketten zu lernen. Es will ein
verlässliches System, will die "Ordnung der Dinge" nach
objektiven (von den Erwachsenen geteilten) Kriterien
klären, nicht mehr nur nach eigenen Schemata, die im
vierten und fünften Lebensjahr dominieren, wie die
Systematisierungsfrage danach, "wer alles Regenwürmer
mag".
Mit 10, erste Klasse Gymnasium, fragt sie uns beim
Pilzesammeln, was wir meinen, ob Pilze Pflanzen seien.
Um uns dann aufzuklären, dass Pilze weder dem Tierreich,
noch dem Pflanzenreich angehören. Biologieunterricht.
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Verwandtschafts- und Freundschaftsbeziehungen. Soziale
Rollen
BIST DU MEINE MAMA?
(5-)
Die Tochter war mit dem Vater zehn Tage auf einer
Reise durch Deutschland, bei verschiedenen Freunden
und Verwandten, hat die unterschiedlichsten Familien
besucht. Und da kommt die Mutter wieder dazu, mitten
hinein in eine Großfamilie, in der die Tochter und
der Mann sich gerade aufhalten. Und das Kind fragt
"Bist du meine Mama?" - nicht bei der ersten
Begrüßung, sondern danach mehrere Male beim
vertrauten Zusammensein.
Die Mutter hat gelassen darauf reagiert, "ja, das
bin ich, ich war jetzt nur auf einer langen
Dienstreise". Im nachhinein hat sie sich allerdings
auch ihre Gedanken gemacht. Mütter sollten auf diese
Frage keineswegs entsetzt reagieren oder mit
übersteigerter Zuwendung. Es ist eine ganz sachliche
Frage, die es sachlich zu beantworten gilt. |
Die Frage kann allgemein eine Folge dessen sein, was schon
bei der Frage "Bist du mein Papa" erörtert wurde. Es gibt
allerdings auch andere Herleitungen. Kinder werden sehr früh
damit konfrontiert, dass es einen Unterschied geben kann
zwischen "leiblichen" und "betreuenden" (angeheirateten,
dazugezogenen, vorübergehenden) Vätern und Müttern. Da
erstaunt es nicht, wenn Kinder selbst bei der Mutter einmal
die Gewissheit verlieren und nach Orientierung suchen: Bist
du meine leibliche Mama oder hast du mich adoptiert oder so
was? Auch wenn das Kind die Frage selbst noch gar nicht so
versteht (und auch Begriffe wie "Adoption" nicht). Die
"richtige" Antwort könnte also lauten: "Ja, ich hab dich auf
die Welt gebracht." Oder es ist vielleicht an der Zeit,
etwas aufzuklären, soweit das Kind fragt und altersgerecht -
mit der Versicherung z.B. "jetzt bin ich deine richtige
Mama".
In Zeiten zunehmend unklarer Rollenbilder von Mann und
Frau ist es auch nicht verwunderlich, wenn ein Vater von
seinem Kind einmal gefragt wird "bist du meine Mama?"
Dies wird sicherlich noch unterstützt durch ein
Adoptionsrecht für homosexuelle Paare oder durch
gleichgeschlechtliche Paare, die gemeinsam das Kind
eines der beiden Partner aufziehen. Zumal diese Themen
natürlich auch in Kinderbüchern erscheinen.
Doch auch unabhängig davon sind gerade die vermeintlich
so elementaren Kategorien wie "Mama" und "Papa" für
Kinder in verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung
plötzlich (erneut) fraglich - und das kann ganz
unterschiedliche Gründe haben. Im Alter von Fünf etwa
die, dass nun Wörter allmählich zu Begriffen werden -
das heißt, zu etwas mit einem definierbaren Sinn, nicht
einfach zu einem gelernten "Etikett". Was genau
unterscheidet denn die Mama von der Patentante, der Oma,
der Tante, der Erzieherin, der Tagesmutter, der netten
Nachbarin, die auch oft auf das Kind aufpasst, ihr sogar
manchmal etwas zu Essen macht? Zumal die Verknüpfung der
Vorstellung vom Ich als Baby, das einmal bei der Mama im
Bauch war, mit dem jetzigen Alterszustand nicht wirklich
abgeschlossen ist. Das zeigt sich etwa, wenn Kinder
dieses Alters Abbildungen von sich selbst als Baby
sehen. Da ist oft eine große Distanz und Irritation
spürbar.
|
Wortbildung. Zeitlinien
WANN HABT IHR
GEHOCHZEITET? (5-)
Das Kind wollte dies von seinen Großeltern wissen,
als diese Goldene Hochzeit feierten. Eigentlich ist
"Wann habt ihr gehochzeitet?" keine sonderlich
interessante Frage. Ich stelle sie hier dennoch vor,
da sie zu einem Typus von Kinderfragen gehört, der
von Eltern gerne gesammelt wird. Er repräsentiert in
besonderer Weise das, was mit "Kindermund"
landläufig gemeint ist: Amüsante sprachliche
Fehlleistungen.
Aber liegt hier wirklich eine sprachliche
Fehlleistung vor? Das Verb "hochzeiten" war durchaus
bis ins 20. Jahrhundert hinein gebräuchlich. Was das
Kind natürlich nicht weiß. Die Großeltern
korrigieren nicht, sondern verwenden in ihrer
Antwort einfach "geheiratet". Und verwenden auch
gleich noch das Substantiv "Hochzeit" mit "unsere
Hochzeit war im Sommer". |
Das Kind wendet lediglich
eine einfache Regel zur Bildung von Verben und
zusätzlich eine einfache Regel zur Bildung des
Partizips Perfekt an. Die erste Regel macht aus
"Hochzeit" das Verb "hochzeiten", die zweite aus dem
Infinitiv das Partizip Perfekt "gehochzeitet". Alles
perfekt! Dass heute nur noch das aus "Heirat"
gebildete Verb "heiraten" gebräuchlich ist, macht den
kindlichen Ausdruck für Erwachsene zum verzeihlichen,
amüsanten Fehler.
Kinder sind sprachlich kreativ und wenden
Regeln zur Wortbildung und zur Flexion von Verben und
Substantiven gelegentlich sehr eigenmächtig an. Diese
Eigenmächtigkeit ist für Erwachsene bereits amüsant.
Tritt sie in einer Frage auf, die eher "erwachsen"
wirkt, Erwachsenenkommunikation deutlich nachahmt,
entsteht eine Spannung, die Fragen wie die zitierte
für Erwachsene zusätzlich berührend macht.
Nebenbei verrät sie allerdings auch einiges
über die Entwicklung des Kindes, es hat bereits eine
grobe Vorstellung von der Organisation menschlicher
Lebenszeit, es kennt konventionelle Formen sozialer
Kommunikation und es kann souverän seinen Sprachschatz
weiterentwickeln und gezielte Fragen stellen. Wichtige
Elemente der "Schulreife" sind bereits gegeben.
Die geschickteste Weise, ein Kind sprachlich
zu korrigieren ist die, in der Antwort einfach die vom
Erwachsenen für korrekt gehaltene Form zu verwenden.
Das Kind lernt durchaus früh, dass es verschiedene
Konventionen gibt, Synonyme, dialektale Varianten etc.
pp. Mit der Frage "was ist nun richtig, 'gehochzeitet'
oder 'geheiratet'" kommt es irgendwann dann ohnedies
von selbst - falls es nicht einfach die Konvention
akzeptiert.
|
Geschmack. Relationen
WARUM
SIND DIE KIRSCHEN JETZT SAUER? (5-)
Die Frage stellte Klara, als sie von Kirschen
aß, die sie ein paar Stunden zuvor süß fand.
Dazwischen hatte sie Milchreis gegessen.
Ich erklärte ihr, dass die Kirschen jetzt nur im
Kontrast zum Milchreis - der sehr süß war, ein
Fertigprodukt aus dem Beutel - sauer schmeckten.
Sie blickte skeptisch. Wieso konnte etwas, das
eigentlich süß war, plötzlich sauer sein. "Die
sind sauer geworden!" war ihr eigener
Erklärungsvorschlag. |
Ich brachte noch einige weitere Beispiele zu
Reizschwellenphänomenen, z.B., wie es plötzlich ganz dunkel
ist im Zimmer abends, wenn man das Licht ausmacht - wie die
Augen sich aber an die Dunkelheit gewöhnen und man bald
wieder was erkennen kann, wenn von draußen noch ein bisschen
Licht hereinkommt. Sie hörte zu, eher skeptisch, keineswegs
überzeugt. Dann probierte sie die Kirschen erneut und meinte
nach einigen Kirschen: "Jetzt sind sie wieder süß!" Sie
konnte aber nicht umhin, fast triumphierend festzustellen:
"Aber nicht so süß wie vorher!" Sie wollte festhalten, dass
sich eben doch etwas objektiv verändert habe.
Ich mache nochmals einen Anlauf und gebe ihr
ein Beispiel aus dem Bereich Lärm: Wenn die Leute im
Urlaub in den Bergen waren, wo es einsam und ruhig war,
und sie kommen wieder in die Stadt, denken sie, das ist
aber laut hier. Und wenn sie aus der Stadt in die Berge
kommen, denken sie, das ist aber leise hier. Klara hört
sich das geduldig an und vermeldet dann lakonisch: "Das
hab ich noch nicht gedacht!"
Über ihr eigenes Denken spricht sie seit etwa
Viereinhalb. Und sie nimmt es sehr ernst und als ein
Zeichen, dass sie nun wohl so gut wie erwachsen sei.
Dieses selbstbewusste Vertrauen in das eigene Denken
zugleich mit dem Vertrauen in die eigenen
Sinneswahrnehmungen (sauer=sauer, süß=süß) gehören wohl
zusammen.
Und sie hat durchaus auch Recht mit ihrem Beharren auf
der aktuellen Erfahrung. Ständig Erfahrungen miteinander
zu vergleichen, ist ein Erwachsenenlaster. Und wir geben
viel Geld aus, um im Urlaub oder mal ein Wochenende lang
nur im "Hier und jetzt" zu sein!
Ein Jahr später hat sie das Geschmacks-Phänomen
allerdings selbst erkannt, auf das ich sie hier
hinweisen wollte - und zwei Jahre später erklärte sie es
anderen Kindern.
|
Soziale Rollen. Arbeit. Geld. Einkaufen
WIRST DU JETZT BALD
EINE BETTLERIN, MAMA? (5-)
Klara war mit der Mutter einkaufen. Es war ein
großer Einkauf und das Band an der Kasse wurde gut
gefüllt. Klara war der Meinung, dass die Mama nun
kein Geld mehr übrig habe und fragte: "Wirst du
jetzt bald eine Bettlerin?".
Die Mutter beruhigt (obgleich das Kind keineswegs
beunruhigt scheint) und erklärt, dass sie auf der
Bank noch Geld habe und morgen ja wieder arbeiten
gehe und Geld verdiene. |
Klara hatte bereits ein breites Spektrum bettelnder
Menschen kennengelernt, die Punker in Berlin mit
Schäferhund, die "mal'n Euro" wollten, einen Herren
mittleren Alters mit perfekter Kleidung und einem
propperen Rucksack (Kommentar von Klara: "Der hat aber
schöne Schuhe an!"), der weit entfernt vom Bahnhof um
Geld für eine Zugfahrkarte "nach Hause" bat, die ältere
Frau am Boden vor dem Supermarkt mit Kaffeebecher, der
junge Mann im Rollstuhl. Und dazu hat sie schon
erfahren, dass nicht alle Leute, die arbeiten, davon
auch z.B. ein Auto kaufen können, obwohl sie eines
wollen. Andererseits hat sie auch gelernt, dass es für
arme Leute soziale Unterstützung gibt. Der
kleinste gemeinsame Nenner der verschiedenen Bettler und
Bettlerinnen, die sie gesehen hatte, war für sie, dass die
kein Geld mehr hatten und welches brauchten. Und das kann ja
auch der Mama passieren. Was Bettler ausmacht, hat sie noch
nicht verstanden, ebenso wenig wie sie wirklich begreift,
was "Arbeit" bedeutet und "Geldverdienen". Doch diese Themen
interessieren sie nun, soziale Rollen werden für sie
interessant und zum Frageanlass.
Dass die Mama für sie zur Bettlerin werden könnte, macht
auch deutlich, wie unbefangen sie die verschiedenen sozialen
Rollen noch betrachtet. Ebenso, wie die Rolle der Mutter als
"Mama" gelegentlich fraglich werden kann, sind auch Beruf,
Geld, Besitz, Arbeit noch nicht fest zugeschrieben. Womit
sie im Grunde ein wirklichkeitsnäheres Bild von der heutigen
Realität hat als die meisten Erwachsenen.
Einige Wochen später, als die Mutter bei einem Essen mit
Freunden die Bezahlung übernimmt und Geld zurückweist, das
ihr als Anteil am Essen gereicht wird, reagiert das Kind
empört, weint fast: "Dann hast du doch kein Geld mehr,
Mama!". Und auch das Bettlerin-Thema kam nochmals bei einem
größeren Einkauf. Auf die Beruhigung durch die Mutter mit
dem Hinweis auf ihre Bank und ihre Arbeit kam dann die
Rückfrage, warum Bettler nicht einfach auch auf die Bank
gehen und dort Geld holen.
Interessant an diesem Thema ist auch, wie das erste
Empfinden für soziale Differenzen gleich verbunden auftritt
mit der Sorge um sozialen Abstieg. Das Bettler-Thema
beschäftigt Kinder in diesem Alter offensichtlich häufig,
auch im Freundeskreis von Klara. Die Märchen der Gebrüder
Grimm greifen das Armutsthema häufig auf, in der
Jugendliteratur hat Mark Twains "The Prince and the Pauper",
dt. "Prinz und Bettelknabe", ein Modell geschaffen, das
Klara mit 9 Jahren intensiv beschäftigt.
|
Zählen. Messen. Raum. Unendlichkeit
HÖRT DER
HIMMEL AUCH EINMAL AUF? (5-)
Die Frage stellt das Kind, als wir im Auto
fahren und vor uns und über uns ein wunderbar
blauer Himmel mit malerischen Wolkenformationen
sich dehnt.
Ich erkläre, dass der blaue Himmel, den wir
jetzt sehen, ein Ende habe. Das Blaue sei
nämlich die Luft um unsere Erde, wo auch die
Wolken drin sind. Der schwarze Himmel, den wir
nachts sehen, mit den Sternen, habe kein Ende.
|
Kant hat in seiner "Kritik der praktischen Vernunft"
(Schlusswort) die Unendlichkeit des Himmels "über mir" sehr
schön in seinem Vergleich mit dem "moralischen Gesetz in
mir" dargestellt, was ich nicht erwähne. Es will dann
wissen, ob der Himmel Karlsruhe gehöre (der Stadt, in der
wir uns befinden), ob Karlsruhe da "bestimmen" darf. Ich
erkläre, dass der Himmel allen gehöre, aber Karlsruhe z.B.
mitbestimmen darf, ob da direkt über Karlsruhe Flugzeuge
durch den Himmel fliegen, dass es auch am Himmel so was wie
"Straßen" gebe, wo die großen Flugzeuge fliegen dürfen.
Erneut fällt hier die Kategorie des "Bestimmens" auf, die es
in diesem Alter sehr interessiert und beschäftigt. Damit
werden auch abstrakte Größen greifbar. Mit dem Bewusstsein
von Zahlen und Mengen entwickelt sich auch eine erste vage
Vorstellung von Unendlichkeit, zumindest der Möglichkeit
dazu. Eine Grenze des Himmels ist ja nicht zu sehen. "Wo
hört der Himmel auf?" - da, wo Philosophie und Religion
anfangen?
Wim Wenders hätte die Frage nach der Zugehörigkeit des
Himmels zur Stadt wohl gefallen. "Der Himmel über Berlin"
(so der Titel eines berühmten Wenders-Films von 1987) ist
eben ein anderer als der über Karlsruhe.
Bei einer späteren Situation, kurz vor ihrem 6. Geburtstag,
beantwortete sie diese Frage mit einem klaren "Ja" - es sei
ja "unser" Himmel, über uns. Und mit gerade Sieben erklärte
sie mir bei einem von ihr sehr verständig initiierten
Gespräch darüber, dass es keine letzte Zahl gebe, "aber der
Himmel hört einmal auf, das weiß ich, das kann ich dir genau
sagen!".
Den Unterschied zwischen "Himmel" als Erdatmosphäre und
"Kosmos" habe ich angesprochen, aber er hatte keine
erkennbare Bedeutung für sie.
|
Nahrungsmittel. Gottesbild. Vegetarismus
WAS ISST
DER LIEBE GOTT? (5-)
Es ging um Klaras Lieblingsessen. Dazu gehörten
in dieser Zeit Döner, Nudeln und Reis. Und
Schokolade, wie sie halb ernsthaft, halb mit
Schalk hinzufügte. Und dann wollte sie wissen
"Was isst der liebe Gott?" - gab sich aber
gleich selbst die Antwort: "Alles, außer
Menschen und Tieren!" Und fügt, beim Blick aus
dem Fenster, hinzu: "Und Häuser, Häuser und so
was auch nicht."
Eine der Fragen, bei denen Erwachsene
zurückfragen sollten, ein Gespräch entwickeln.
Denn natürlich haben Erwachsene auf diese Frage
keine eindeutige Antwort. Es geht hier "um Gott
und die Welt". |
Das Kind schafft sich ein stimmiges Weltbild, in
welchem Lücken zunehmend geschlossen werden. Gott ist
eine Größe, die es von den Erwachsenen übernommen hat,
die nicht ganz in seinen Erfahrungshorizont passt (in
den der Erwachsenen auch eher selten). Also löst es das
Problem, indem es Gott (wie die Erwachsenen auch)
anthropomorph ausgestaltet. Einmal, in einer anderen
Situation, versichert sie mir auch, Gott sei ein Mensch.
Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, sie bezieht
sich auf die Christologie, deren "Gott und Mensch
zugleich", und sie fügte hinzu "er ist gestorben und
dann wieder gekommen".
Dabei bleibt in der Thematisierung der
Ernährung Gottes in der vorliegenden Frage bei ihr das
Bewusstsein, dass Gott nicht so einfach erfasst werden
könne, erhalten. Denn es ist für sie durchaus ernsthaft
thematisierbar, ob Gott auch Häuser esse, irgendwie hat er
ja einiges mit Riesen gemein, die sowas in Kinderbüchern
gelegentlich tun. Also muss das mit den Häusern explizit
ausgeschlossen werden, da Gott nett zu den Menschen ist.
Bemerkenswert ist, dass ihr Gott auch keine Tiere isst.
Das hat wesentlich damit zu tun, dass er "lieb" ist und
verweist uns auf die gerne zitierte "Tierliebe" von
Kindern. Diese Tierliebe hat verschiedene Ursachen, eine
davon dürften die ersten Bilderbücher sein, die in der
Regel von Tieren handeln, eine andere der Umgang mit
Kuscheltieren, eine dritte die erlebte emotionale und
soziale Nähe von Kindern und Tieren (Tiere werden
versorgt wie Kinder, sind eher "untergeordnet", häufig
im städtischen Erfahrungsraum auch körperlich kleiner
als erwachsene Menschen).
Bei Klara hatte die Tierliebe spätestens ab Vier ganz
deutlich auch eine Dimension von Solidarität mit den
Tierkindern. Es war für sie früh klar, dass Jäger zwar
große Tiere ("Erwachsene") schießen dürften, aber kleine
("Kinder") keinesfalls. Darüber, dass Tiere Kinder haben
und "Familie" hat sich für sie um den 5. Geburtstag
herum ein Bewusstsein von der Mensch-Tier-Nähe
entwickelt, das offensichtlich unabhängig war von den
frühen Kuscheltier- und Bilderbuchtier-Erfahrungen.
|
Indirekte Fragen.
Höflichkeit. Soziale Rollen. Schulreife
WIE SIEHT ES DA
DRINNEN AUS? (5-)
Klara steht vor meiner Gartenhütte, geht auf die
Tür zu und fragt "Wie sieht es da drinnen aus?".
Sie könnte auch fragen "Darf ich da mal
reinschauen?" oder ähnliches.
Ich schmunzle, sie schmunzelt auch. Ich sage,
"Schau doch mal selber rein, ich mach dir auf".
Eine schlechte Antwort wäre hier: "Frag mich doch
einfach, ob du da rein darfst!" Sie würde
ignorieren, dass das Kind hier (auch) eine
Kompetenz erprobt, die Fähigkeit, indirekte Fragen
zu stellen. Es wird sehr bald lernen, dass nicht
alle Erwachsenen indirekte Fragen verstehen oder
schätzen - und dass manche sie bevorzugen. |
Soziale Rollenwahrnehmung, Höflichkeit, Sensibilität für
Stilebenen, rhetorische Kompetenz (aktiv und passiv):
Mit Fünf entwickelt sich das, was auch als "Schulreife"
benannt wird, rasant - die Kompetenz zu gemeinsamem
Arbeiten und Lernen. Dazu gehört wesentlich die
Kompetenz, rhetorische Sprachmittel korrekt
einzuschätzen, Metaphern, indirektes Sprechen zu
entschlüsseln und selbst einzusetzen.
Hinter der Frage hier stehen vermutlich zwei Fragen:
"Darf ich da rein?" und "Kannst du mir bitte die Tür
aufmachen?". Die Sprechakttheorie hat uns hierzu viel
gelehrt. Ein bekanntes Beispiel ist der Satz "Hier ist
es aber kühl" als indirekte Formulierung der Bitte
"Könnten Sie mal das Fenster schließen?".
Mit ein wenig Sprechakttheorie sollten sich Erwachsene
mit Kindern in diesem Alter beschäftigen. Vor allem
sollten sie nicht vorschnell darauf drängen, dass das
Kind seine Fragen doch bitte "direkt", "gerade heraus"
(und die Erwachsenen meinen damit zumeist auch: ehrlich,
ohne Heuchelei - und bewerten damit das Kind) stellen.
Und sie sollten natürlich auch schauen, welche Muster
sie selbst verwenden, sie sollten vielleicht zunächst
einmal selbst mehr "gerade heraus" reden, wenn sie das
vom Kind erwarten. Denn natürlich übernimmt das Kind die
kommunikativen Muster seines Umfeldes - zumal wenn sie
seinen Bedürfnissen entsprechen.
Eine ganz andere und doch ähnlich indirekte Frage hätte
lauten können "Was ist da drinnen?" Doch Klara hat eine
Frage gestellt, die weniger sachorientiert und stärker
einschätzungsorientiert ist. Man könnte auch sagen:
"ästhetisch" interessiert. Dies entspricht den Merkmalen
ihres frühesten Spracherwerbs. Dingwörter wie "Ball",
"Wauwau" oder "Nane" (Banane) haben eine weit geringere
Rolle gespielt als Aktionswörter wie "dada" (bewegen,
gehen, Ausflug machen), "ena" (essen, haben wollen, noch
mehr), "da" (das gefällt mir, das möchte ich haben,
schau mal), "auf" (ich will da hoch, ich will
hochgenommen werden) oder Eigenschaftswörter wie "heiß".
Noch im Gymnasium hat sie später Probleme mit der
Großschreibung von Nomen, die sie beharrlich ignoriert.
Das mag mit an der Montessori-Pädagogik ihrer
Grundschule liegen, könnte aber auch auf ihre frühe
Geringschätzung von Nomen zurückweisen. Ihre ersten
Wörter waren nicht gegenständlich bezogen, sondern auf
Handlungen oder Eigenschaften.
|
Tier-Mensch. Familie. Evolution.
Implizites Wissen
KANN DIE MAMA EIN
AFFENBABY BEKOMMEN? (5-)
Die Frage fällt im Zoo. Klara steht vor einem Poster
mit einer Schimpansenmutter, die ein Schimpansenbaby
im Arm hält. Das Poster mutet an wie eine
Madonnendarstellung. Und Klara spürt, was die
Abbildung sagen möchte: Schaut her, sie sind wie
wir, es sind unsere Verwandten.
Meine Antwort ist, dass Menschenmamas nur
Menschenbabys, Affenmamas nur Affenbabys bekommen
können. Ich versuche, herauszufinden, wie sie auf
diese Frage kommt, ohne ihr eine Antwort in den Mund
zu legen (also nicht: "Meinst du, weil das aussieht
wie die Mama mit deinem kleinen Bruder?") und frage
schlicht "Warum fragst du das?". Sie antwortet mit
"Weiß nicht". |
Es ist das Alter, in welchem Klara Tiere und Menschen
fast schon systematisch unter den gleichen Kategorien
betrachtet. Sie sammelt unterschiedlich große
Weinbergschnecken zusammen und erklärt begeistert: "Eine
richtige Familie!". Sie will bei allen Tieren wissen,
wer der "Papa" und wer die "Mama" ist - was sie schon
früher tat, aber nun mit intensiverem Interesse. Und sie
fragt, ob Affen auch Schwimmen, Fahrradfahren oder
Ähnliches können. Sie hat offensichtlich ein implizites
Wissen von der Verwandtschaft zwischen Affen und
Menschen.
Was durchaus auch nahe liegt aus Kinderperspektive -
etwa insofern, als Tiere vieles nicht können, was Kinder
auch (noch) nicht können. Erstaunlich ist ja nur, dass
die Menschheit zu dieser Erkenntnis erst im 17.
Jahrhundert mit den Darwin-Vorläufern gelangte. Wobei es
zu weit ginge, hier beim Kind schon eine Vorstellung von
Evolution zu vermuten. Es hat ja noch Mühe, auf der
Zeitachse Oma, Mama und sich selbst korrekt zu verorten.
Eine Vorstufe auf dem Weg, Evolution zu denken, ist aber
hier schon zu erkennen.
Mein Versuch, Hintergründe zu ihrer Frage zu erfahren,
scheiterte. "Warum"-Fragen, die sich auf ihre
Motivationen beziehen, kommen noch nicht an,
Selbstreflexion ist zwar in Ansätzen vorhanden, aber
vorwiegend spontan, nicht abfragbar. Andere als
"Warum"-Fragen hätten bereits eine Antwort suggerieren
können, das wollte ich nicht. Beispielsweise hätte die
Rückfrage "Meinst du, weil Affenbabys so ähnlich
aussehen wie Menschenbabys?" ein einfaches "Ja" bekommen
können, ohne dass sie dies unbedingt wirklich meinte.
Weiter bringen Fragen wie: "Meinst du, sie könnte ein
Elefantenbaby bekommen?"
|
Fragen über Sprache. Begriffslernen.
Wortschatz. Schulreife
WAS HEIßT
"ÜBERLISTET"? (5-)
Die Frage ist nicht sonderlich aufregend, steht aber
für einen Typus, der charakteristisch und
interessant ist innerhalb der geistigen Entwicklung
des Kindes. Gestellt hat das Kind sie im Zoo vor dem
Luchsgehege, als ich ihm erklärte, wie die
Tierfänger den schlauen Luchs "überlistet" haben, um
ihn zu fangen und in den Zoo zu bringen. Ähnliche
Fragen (nach Wortbedeutungen) kamen in den
vergangenen Wochen häufiger.
Ich habe "überlistet" dann ersetzt durch
"ausgetrickst", davon ausgehend, das Kind habe den
Ausdruck schon öfter einmal gehört. Dazu habe ich
erklärt "die haben dem Luchs eine Falle gestellt!".
Darauf das Kind: "Was ist eine Falle?" - Da hatte
ich mich selbst in die Falle geführt, eine
erklärungsbedürftige Erklärung gegeben. Um einem
tendenziell infiniten Rekurs zu entgehen, beschrieb
ich konkret, wie man Raubiere fangen kann, mit einem
Köder und einer großen Kiste. |
Das Konzept "überlisten" ist für das Kind noch schwer
zu begreifen. Es wendet selbst noch selten "Tricks"
an - und meistens klappen die nicht, da es sich
selbst verrät. "Zaubertricks" in diesem Alter sind in
der Regel unfreiwillig komisch, erwarten vom Publikum
viel guten Willen. Insofern fragte das Kind nach einem
Konzept, das es noch nicht beherrschte. Als ich einige
Tage später wieder einmal "überlisten" verwendete,
tadelte es selbstbewusst: "Ich weiß nicht, was du
meinst". Da gerade Fussball-Weltmeisterschaft war und
das Kind etwas davon mitbekommen hatte, brachte ich ein
Beispiel aus diesem Bereich: "Wenn ein Fussballspieler
ein Tor schießen möchte und rennt erst nach Rechts, dann
meint der Tormann, der will Rechts reinschießen - und
rennt nach Rechts. Und dann schießt der Fussballspieler
nach Links ins Tor. Dann hat er den Tormann überlistet."
- "Ach so, ja!"
Begriffserklärungen für Kinder haben ein Problem: Es sollten
möglichst einfache und anschauungsnahe Erklärungen verwendet
werden, um nicht in einen infiniten Rekurs zu geraten. Damit
bleibt oft die Exaktheit auf der Strecke, aber damit muss
man sich als erklärender Erwachsener abfinden. Und die
Bemühung, einen Sachverhalt so zu formulieren, dass ihn auch
ein Kleinkind verstehen kann, ist ein gutes Training. Nicht
aufgeben! Und immer schön konkret bleiben.
Das Kind zeigt mit dieser Frage, dass es nun endgültig nicht
mehr zufrieden damit ist, nur neue Wörter zu lernen und den
Anwendungskontext mitzulernen. Es will auch begreifen, was
die Wörter analytisch bedeuten. Insbesondere bei Wörtern,
die (manchmal nur scheinbar) schon bekannte Wörter
enthalten, aber durch diesen Bezug nicht erklärt sind (z.B.
"Maulbeeren" oder "Kaktus"). Da will sie Erklärungen, "Warum
heißen die/heißt der so?", verbindet ihre Fragen mit
Kommentaren wie "das ist lustig" (in den genannten beiden
Fällen, wegen "Maul-" und "Kak-").
|
Eigenschaftsfragen. "Haben"-Fragen.
Milchzähne. Tier-Mensch-Analogien. Naturforschung
HABEN TIERE
WACKELZÄHNE? (5-)
Die
Frage nach den Wackelzähnen von Tieren stellte
Klara bei der Erforschung eines eigenen
Wackelzahns (= Milchzahn, der sich
verabschiedet).
Auf diese Frage darf durchaus ausführlicher
naturkundlich geantwortet werden, das Kind will
das nun genauer wissen - also welche Tiere
welche Art von Zähnen haben und wie die sich
entwickeln. |
Die eigene Betroffenheit ist wie so oft beim Individuum,
aber auch in der menschlichen Kulturgeschichte, der
Auslöser für einen Bedarf an Wissen und die
Bereitschaft, eine genauere Antwort zu finden. Gemeinsam
mit der nachfolgenden Frage ("Haben Wolken Zähne?")
verweist die Frage nach Wackelzähnen bei Tieren auf
einen signifikanten typologischen Unterschied im
Erfragen von Kleinkindern. Sie gehört zu den
systematisch sprach- und welterschließende Fragen. Der
Typus hier ist die naturerkundende Frage, die bereits
kontextualisiert und auf eigenes Hintergrundwissen
rekurriert.
Nun bietet sich ein Besuch im Zoo oder in einem
naturkundlichen Museum an, bei welchem auf diese Frage
zurückgegriffen werden kann im anschaulichen Umfeld. So
haben auch Hunde, Katzen, Wölfe und Raubkatzen ein
"Milchgebiss". Interessant für Klara war auch der
Hinweis auf die Haifischzähne, die immer wieder neu
nachwachsen ("Revolvergebiss"). Wobei das Spezifische
der Erfahrung des Kindes nicht vergessen werden sollte.
"Wackelzähne" verweisen auf die Genese der Zähne, auf
Entwicklungsprozesse, auf Austausch im Besonderen. Das
Kind macht hier die unmittelbare Erfahrung mit Verlust
und Neugewinn am eigenen Körper. Diese Erfahrung wird zu
Recht kulturell besonders markiert, heute durch die
Figur der "Zahnfee" und kleine Schächtelchen, in denen
die ersten ausgehenden Milchzähne gesammelt werden.
Kulturgeschichtlich hat die Milchzahn-Erfahrung
vielfältige Spuren hinterlassen. So verwendeten die
Annam (Vietnam) die ausgefallenen Milchzähne ihrer
Kinder zerstoßen als Medizin (Max Bartels, Die Medicin
der Naturvölker, 1893). Bei den römerzeitlichen Franken
wurde der erste ausgefallene Milchzahn als Amulett
getragen. In Volksbräuchen war noch im 19. Jahrhundert
der erste ausgefallene Milchzahn magisch aufgeladen, er
wurde etwa in ein Mäuseloch geworfen, um die
nachfolgenden Zähne stark und weiß werden zu lassen
(Gottfried Lammert, Volksmedicin in Bayern, 1860).
Zusammen mit der nachfolgenden Frage gehört diese Frage
zur großen Gruppe der Fragen nach Eigenschaften, die mit
dem Vollverb "haben" arbeiten.
|
Eigenschaftsfragen. "Haben"-Fragen.
Zähne. Analogiedenken. Naturphilosophie
HABEN WOLKEN ZÄHNE?
(5-)
Die Frage nach den Wolkenzähnen wurde bei einer
Zugfahrt nach einem längeren Blick aus dem Fenster
gestellt. Draußen sah man einen blauen Himmel mit
eingestreuten Kumuluswolken.
Ich frage zurück, ob die Wolken denn Karotten oder
Brot oder Döner (das aktuelle Lieblingsessen des
Kindes) essen können. Das Kind verneint. Ich frage
weiter, was Wolken denn mit Zähnen machen könnten.
"Den Himmel beißen!", kommt als Antwort - lachend. |
Gemeinsam mit der vorangegangenen Frage verweist diese Frage
auf den Übergang zu systematisch sprach- und
welterschließenden Fragen, die dann die Schulzeit
wesentlich prägen. Dieser Übergang vollzieht sich etwa
gleichzeitig mit der über Ist-Fragen hinausgehenden
Ausbreitung der Verb-Fragen (Entscheidungsfragen wie
"Hast du ..." oder "Gibt es ..."). Daher ist die
Bezeichung als "Entscheidungsfragen" auch irreführend,
das Kind will hier keineswegs nur ein "Ja" oder "Nein"
als Antwort.
Die Frage nach den Wolkenzähnen kann durchaus als
"naturphilosophisch" in einem anfänglichen Sinn
begriffen werden. Das Kind formuliert eine kühne
Anthropomorphie und versucht, damit einen seiner
unmittelbaren Untersuchung unzugänglichen Naturbereich
zu erfassen - wie die Menschheit das schon immer getan
hat.
"Da sind so Zacken", erläutert das Kind seine Frage dann
näher. Es meint damit die spezifische Formation der
Wolken, die es im Blick hatte. Aber es wäre verfehlt,
hier nun einfach eine optisch fundierte Assoziation zu
lesen. Eines seiner aktuellen Themen ist der Verlust von
Milchzähne, da es seinen ersten "Wackelzahn" hat. Und
damit das Thema "Zähne" allgemein, der Übergang von
Kinderzähnen zu Erwachsenenzähnen, Verlust und Gewinn,
Werden.
Andere Themen mit naturphilosophischer Relevanz sind
zeitgleich die Unterschiede zwischen belebten und
unbelebten Naturphänomenen, zwischen Tieren und
Pflanzen, zwischen Tieren und Menschen. Alle diese
Themen sind in dieser Frage mit präsent.
|
Diskursfragen. Gesellschaft. Verbrechen. Strafsystem.
Schulreife
GIBT ES AUCH LEUTE,
DIE IM GEFÄNGNIS BLEIBEN MÜSSEN, BIS SIE TOT SIND?
(5)
Ausgangspunkt des Gesprächs war das Thema "Dieb",
das für das Kind unmittelbar mit dem Thema
"Gefängnis" verbunden ist, nicht zuletzt durch Pippi
Langstrumpf und die Erfahrungen von Pippi mit
Donner-Karlsson und Bloom.
Ich erklärte das Verhältnis von Schwere der Tat,
persönlichen Umständen und Strafmaß. Das Kind wollte
dann unbedingt ein Gefängnis sehen, also etwas
Konkretes zum Thema. |
Mit Fünf sind Kinder durchaus schon diskursfähig. Sie
erschließen sich nun komplexe thematische Zusammenhänge
mit systematischem Anspruch, erfragen tendenziell alle
Begriffe zu einem Thema, die sie nicht verstehen, gehen
in die Verästelungen eines Themas und suchen nach
Klärung für Lücken innerhalb eines diskursiven
Zusammenhanges.
Im vorliegenden Beispiel hat das Kind sich so fragend
u.a. den Komplex "Gericht", "Gefängnisausstattung",
"Strafmaß", "Strafmündigkeit" erschlossen. Die hier
genannte Frage zielt auf das Strafhöchstmaß und den
Begriff "lebenslänglich". Komplementierend fragte es im
gleichen Kontext, ob auch Kinder ins Gefängnis müssen.
Dem Grunde nach hat das Kind mit seinen Fragen eine
knappe Einführung in das Strafsystem skizziert.
Am gleichen Tag hat es auch die Frage gestellt, ob es
Menschen gebe, die kein "Haus" haben, womit es allgemein
Wohnung meinte (interessant die Parallele zur Semantik
von englisch "home"). Dazu wollte es wissen, wo diese
Menschen schlafen, wie die Obdachlosenunterkünfte heißen
("Hotel?"), ob die Betten weich seien und so fort.
Auffallend ist, wie soziale Fragen nun die Fragen nach
Naturzusammenhängen ablösen. Wobei Fragen nach den
Sozialbeziehungen von Tieren eine vorbereitende Funktion
zukam.
Die einleitende, von diesem Kind oft gebrauchte Formel
"Gibt es" verweist uns auf Wittgensteins Formel vom "Was
der Fall ist" ebenso wie auf Arthur Rimbauds repetitives
"Il y a" in "Enfance" - gleichsam "Urformeln" der
Weltbegegnung.
|
Analytische Fragen. Buchstaben. Wörter.
Namen. Wortbildung
WAS FÜR EIN BUCHSTABE
IST DER ERSTE? (5)
Wir hatten gerade am Schriftzug KARSTADT
buchstabieren geübt. Danach zeigte das Kind auf
ein Plakat von Hugo Boss im Schaufenster von
Karstadt und fragte "Was für ein Buchstabe ist
das?". Sie meinte im Schriftzug BOSS.
Ich sagte "Be", denn Kinder in diesem Alter
können mit dem "ABeCe" durchaus schon umgehen.
Wenn ich den Eindruck habe, dass eine
Verständnishilfe sinnvoll ist, füge ich bei
Konsonanten noch das reine Lautbild hinzu ("B")
- allerdings nur ergänzend, ich verwende es
nicht alleine (das scheint mir nur bei jüngeren
Kindern sinnvoll). |
Den früheren Fragen "Was steht da" und "Welcher Buchstabe
ist das" folgt nun eine gezielte Frage zu einem Buchstaben
als Teil eines Wortes. Buchstaben werden nun klar als Teile
von Wörtern und Wörter als zusammengesetzt aus Buchstaben
begriffen. Daran arbeitet das Kind schon einige
Zeit, aber erst jetzt habe ich den Eindruck, dass es das
Prinzip der Buchstabenschrift begreift. Dies zeigt auch
die Nummerierung, die es vornimmt mit der Angabe "der
erste". Buchstaben haben ihren Platz in einem Wort -
hinter dieser Einsicht steckt eine großartige
Denkleistung.
Dabei orientiert sich das Kind im Worterfassen
allerdings nicht streng am Buchstabieren (das kommt dann
beim Schreiben-/Lesenlernen in der Schule), sondern an
bereits bekannten Wörtern. Aus "Karstadt" macht es
"Karlstadt", auch mit direktem Blick auf den Schriftzug,
da der Name "Karlsruhe" ihm bestens bekannt ist, das ist
seine Heimatstadt. Das bietet viel Anlass zu Gesprächen
über Wörter, Namen, Zusammensetzungen von Wörtern, die
Macht, die ein einzelner Buchstabe hat, aus einem Wort
ein ganz anderes zu machen.
Auf der Ebene der Sprachentwicklung steht diese Frage
für das Vermögen, Sprachproduktion in Ansätzen
metasprachlich zu analysieren. Wir befinden uns hier
noch im Bereich der Analyse einzelnen Wörter, doch schon
die nächste Frage zeigt uns, dass bereits mehr möglich
ist.
|
Konstatierende Fragen. Polysemie.
Interjektionen
"MENSCH"
IST DOCH EIN ÄRGERWORT?! (5)
Im Kontext eines Gespräches beim Gehen über
Sprache, Wortbildung (siehe die vorangegangene
Frage) blieb Klara stehen, wiederholte das Wort
"Mensch" mehrmals, meinte "wir sind doch
Menschen!", um dann die konstatierende Frage zu
stellen "Mensch ist doch ein Ärgerwort?!".
Ich bemühte mich zunächst, die Mehrdeutigkeit
von "Mensch" klarzumachen. Dann gab ich eine
Erklärung, was mit dem Ausdruck "Mensch" gemeint
ist, wenn man es als Ärgerwort verwendet. Dass
man eigentlich einen ganzen Satz meint, etwa "Du
bist doch ein Mensch, benimm dich auch so!". Sie
selbst bringt dann noch das Beispiel
"Menschenskind". |
Klara artikulierte hier zum ersten Mal implizite ein
metasprachliches Problem. Sie wollte wissen, warum ein
lediglich ordnender, in der Tendenz eher positiver
Begriff wie "Mensch" als Ausdruck von Kritik, Vorwurf,
Verärgerung eingesetzt werden kann.
Interessant ist hier auch, dass das Kind einen
Sachverhalt konstatiert, den es durchaus als gegeben
akzeptiert, der ihm jedoch unstimmig erscheint, den es
nicht durchschaut. Es möchte eine Erklärung, macht
dieses Bedürfnis jedoch nicht explizit, artikuliert es
lediglich durch Tonfall und Blick. Sicherlich ist es
kein Zufall, dass es sich um einen
sprachlich-kommunikativen Sachverhalt handelt. Klara
entwickelt in diesem Alter eine Ahnung davon, dass
Kommunikation problematisch ist, nicht
selbstverständlich. Dass sie gelingen, aber auch
misslingen kann.
Interessant ist hier sprachlich zunächst das repetitive
Moment in der Problemerschließung. Sie wiederholt das
Wort "Mensch" mehrmals und aktiviert damit - ob nur
symbolisch oder auch konkret neurologisch vermag ich
nicht zu sagen - die verschiedenen Kontexte, in denen
sie das Wort bereits kennen gelernt hat. Dann kommt sie
zu ihrer Schlussfolgerung für die Hauptbedeutung von
"Mensch": "Wir sind doch Menschen!" Um abschließend ihr
Problem zu formulieren, dass "Mensch" auch als
"Ärgerwort" eingesetzt werden kann.
Dabei ordnet sie "Mensch" einer Kategorie von Wörtern
zu, die sie mit "Ärgerwort" benennt. Sie organisiert
damit Sprache nach einem ähnlichen Prinzip wie zunächst
die Tiere mit "wer mag alles Regenwürmer". Nämlich nach
pragmatischen Kriterien.
|
Zeit. Verabredungen
WANN HOLST DU MICH
AB? (5)
Klara stellte diese Frage, als ich sie gerade mal
wieder vom Kindergarten abholte - was ich etwa
einmal in der Woche tat, allerdings ohne strenge
Regel.
Ich fragte zurück: "Meinst du, das nächste Mal?" Sie
nickte. Ich erklärte ihr, dass ich sie nächste Woche
vermutlich wieder am Donnerstag abholen werde, wie
heute. Sie: "Holst du mich immer am Donnerstag ab?"
Ich: "Meistens." Damit war sie dann zufrieden. |
Die zunächst wenig interessante Frage markiert einen
wichtigen Fortschritt in der Entwicklung zeitlicher
Vorstellungen. Der Begriff von Wochentagen ist zwar noch
immer diffus, aber da der Kindergarten am Wochenende
geschlossen ist, hat sich schon ein Bild von kulturell
geformter zeitlicher Gliederung über den naturhaften
Tag-Nacht-Wechsel hinaus ausgebildet.
Die Frage steht daher auch für die Ablösung von der
bisherigen Zeiterfassung mit dem am Naturgeschehen
orientierten "noch so und so oft schlafen", das
letztlich der kulturell ältesten Zeitorientierung am
Sonnenlauf entspricht. Wobei diese Orientierung bereits
mehrere kulturelle Leistungen manifestiert, einmal das
Zählen, einmal die Entscheidung für das "Schlafen" als
Gliederungsmerkmal - und damit individualisiert
erfahrbar macht. Das Element der Verabredung steht für
die dann durch und durch eigenständige kulturelle
Dimension der "neuen" Zeiterfassung.
"Abholen" hat etwas mit den zeitlichen
Organisationsformen der Erwachsenen zu tun, die dem Kind
noch fremd sind, die es aber zunehmend interessieren. Es
ist kein Zufall, sondern strukturell bedingt, dass
gleichzeitig auch das Interesse an "Arbeit" sich
deutlich artikuliert, als Interesse primär daran, wo und
wann die Erwachsenen arbeiten. Wobei das "Was" der
Arbeit von Klara noch sehr diffus nur erfasst wird und
sie auch nicht im Detail interessiert.
Das Fragewort "Wann" wird hier innovativ eingesetzt zur
Erfragung einer repetitiven zeitlichen Ordnung, nicht
nur, wie bislang üblich, mit dem Fokus auf ein
einmaliges Ereignis. Sprachlich ist der Satz allerdings
noch unvollständig, es fehlt eine Bestimmung wie etwa
"in der Regel".
Allerdings habe ich erst mit 12 von ihr einen Satz wie
"bis Donnerstag" gehört - also bis zum nächsten Treffen.
|
Öffentlichkeit. Funktionen von Kunst
WARUM
SIND DA BALLERINAS? (5)
Die Frage fällt im Katalograum einer Bibliothek,
dessen einzige freie Wand mit farbigen
Glasarbeiten geschmückt ist, die Tänzerinnen
darstellen könnten, was aber nicht auf Anhieb zu
erkennen ist.
Ich erkläre, das habe eine Künstlerin gemacht,
die gerne Tänzerinnen darstellt. Es sei hier
aufgehängt worden, um den Raum schöner zu
machen. |
Ich wundere mich über die Sicherheit, mit der Klara
hier ihre Auffassung artikuliert, dass es sich um
"Ballerinas" handele. Nach einer Deutung gefragt, hätte
ich auch auf Tänzerinnen getippt, aber die Figuren waren
so stark reduziert, dass man sie auch als bloß
geometrische Figuren hätte wahrnehmen können. Die
Künstlerin hatte allerdings in der Tat Tänzerinnen zum
Thema gemacht. Hier zeigt sich ein Vermögen zur
Mustererkennung, das Kinder oft auszeichnet und sie zu
guten Memory-Spielern macht oder sehr sicher bei der
Erkennung von Toilettensymbolen für Mann und Frau.
Interessanter ist hier allerdings, dass Klara die
Wanddekoration als fragwürdig ansah. Sie kennt
Wanddekorationen, kennt Kunstwerke von Museumsbesuchen,
Vernissagen und in Wohnungen, von Kunst im öffentlichen
Raum. Und sie kennt die Verzierung von Wänden aus
eigener Tätigkeit im Kindergarten, wenn sie mit anderen
Kindern ihre Bastel- und Malarbeiten aufhängt. Warum
also fragt sie nach dem Sinn der Glasarbeiten hier an
der Bibliothekswand?
Leider konnte ich nicht herausfinden, warum ihr diese
Gestaltung auffiel. Es könnte das Thema gewesen sein -
Ballerinas. Eines ihrer wichtigen Themen in dieser Zeit,
wie Pferde oder Hunde. Vielleicht ging es ihr auch wie
mir, dass sie mit überlebensgroßen Ballerinas zwischen
Katalogkästen und Computerarbeitsplätzen nicht viel
anfangen konnte, dies merkwürdig fand. In jedem Falle
demonstrierte sie, dass sie bereit war, künftig auch
Kunst in Frage zu stellen.
In diesen Kontext gehört auch, dass sie sich bei einem
Besuch in einer Kunstsammlung im gleichen Zeitraum
beschwerte: "Da ist nichts für Kinder!". Auf meine
Frage, was denn für Kinder sein solle, meinte sie "Tiere
oder so. Lustige Bilder!".
|
Wortbildung. Semantik
WARUM HEIßT DAS
EIGENTLICH BÜRGERSTEIG? (5)
Wir machten einen Stadtbummel und beim Überqueren
einer Straße trödelte sie, fummelte an ihrer Jacke
herum. Ich sagte, auf dem Bürgersteig könne sie
wieder an ihrem Reißverschluss arbeiten, aber nicht
auf der Straße. Sie ging weiter, blieb auf dem
Bürgersteig stehen, überlegte: "Warum heißt das
eigentlich Bürgersteig?"
Die Wörter "Bürger" kennt sie z.B. aus
"Bürgermeister" (der "Bestimmer" in ihrer Stadt für
sie), den Wortstamm "-steig-" aus "Drachen steigen
lassen" oder "Bergsteigen". Beides interessierte
sie, warum "Bürger-", warum "-Steig". Ich erklärte
die Wörter, sie hörte aufmerksam zu. |
Faszinierend für mich war, wie sie die Themen "Straße
überqueren", "Reißverschluss klemmt" und "Nicht
rumtrödeln" ignorierte und sich einem linguistischen
Problem zuwandte, das sich plötzlich vor ihr aufgetan
hatte. Und dies in einer Formulierung, die vollständige
Fokussierung anzeigte mit dem Indikator "eigentlich".
Ich musste an Professorenwitze denken oder an das "Störe
meine Kreise nicht" des Archimedes. Wundervoll. Auch
wenn ich mir manchmal Sorgen um ihr Verhalten auf
Straßen machte. Allerdings wusste ich, dass sie sich
alleine oder mit anderen Kindern aufmerksamer verhielt.
Wenn Erwachsene dabei waren, betrachtete sie
augenscheinlich diese als zuständig beim Überqueren der
Straße.
Die Frage zielt offensichtlich auf Wortschatz und
Semantik. Es zeigt sich eine geschärfte Sensibilität für
Wortbildungsregeln und semantische Bezüge zwischen
Wörtern. Das Kind erkennt die getrennten Gehalte von
"Bürger" und "Steig", die in diesem Wort präsent sind
und versteht nicht, was diese mit dem Teil der Straße zu
tun haben, den es gerade benutzt. Gebräuchlicher sind ja
"Gehsteig" oder "Gehweg". Und wenn Kinder im Treppenhaus
spielen, heißt es in der Regel nicht "geh nicht hinaus
auf den Bürgersteig", sondern "geh nicht hinaus auf die
Straße".
Das bei diesem Kind mit vier Jahren zum ersten Mal
auftauchende "eigentlich" gehört zur Kategorie der
Wörter und Ausdrücke mit dominierender rhetorischer
Funktion. Bei den ersten Verwendungen war noch eine
Unsicherheit im Gebrauch mitzuhören, ein tastendes
Erproben eines von Erwachsenen gehörten und in seiner
Funktion noch rätselhaften Wortes. Nun aber wird es
bereits souverän eingesetzt, um den Erwachsenen von
seinem dem Kind irrelevant erscheinenden Diskurs über
den Umgang mit Reißverschlussproblemen beim Überqueren
einer Straße wegzuführen.
Die Erklärung kann noch darauf abheben, dass es sich um
einen älteren Ausdruck handelt, aus einer Zeit, als es
nur in Städten so etwas gab, in Städten, wo "Bürger"
lebten, die gutes Schuhwerk trugen und Kleider, die
nicht schmutzig werden sollten.
|
Gesellschaft. Arbeitswelt. Orte
IST DA EINE ARBEIT?
(5)
Ein Mann in Malermontur stand vor einer Seitentür zu
einem großen Gebäude und rauchte. Klara schaute ihm
zu, studierte das Gebäude und fragte dann "ist da
eine Arbeit?"
Die Frage signalisiert einmal Interesse daran, was
der Mann tut, zum anderen Interesse am Thema
"Arbeit". Beides kann in
Antworten/Gesprächsbeiträgen berücksichtigt werden. |
Die Wahrnehmung für die soziale Umwelt schärft sich
weiter, wird differenzierter. Arbeitskleidung wird als
solche erkannt, auch dass rauchende Menschen vor einem
Gebäude bedeuten kann, dass die Menschen in diesem
Gebäude arbeiten. Allerdings ist das Konzept "Arbeit"
noch lange nicht klar. Daher will sie mit dieser Frage
auch etwas erfahren zum Phänomen "Arbeit.
Mehrere Themenkomplexe überlagern sich hier, die mit der
Arbeitswelt verbunden sind. Da ist einmal der Bereich
der Arbeitskleidung, die einen deutlichen Schnitt
markiert zwischen der Welt der Arbeit und der "Freizeit"
- auch wenn die Grenzen zunehmend fließender werden. Die
Leute, die im betreffenden Gebäude, dem Sitz einer
Versicherungsgesellschaft, arbeiten, sind gerade nicht
so eindeutig an ihrer Kleidung als "arbeitend" zu
erkennen. Der betreffende Mann hier war vermutlich als
Externer mit einer Auftragsarbeit als Maler betraut.
Dann spielt - inzwischen - das Rauchen in der
Arbeitswelt eine besondere Rolle, insofern Rauchen am
Arbeitsplatz untersagt ist und der Mann vermutlich
deswegen vor der Tür raucht, weil er im Gebäude nicht
rauchen darf bzw. nicht ins Raucherzimmer mag, weil dort
nur die Angestellten der Gesellschaft sich aufhalten.
Zum dritten weiß das Kind bereits, dass große Gebäude
häufig mit "Arbeit" in Verbindung stehen, insbesondere
wenn es keine Balkone gibt und alle Fenster gleich groß
sind, wie bei dem Gebäude in der Fragesituation.
Alle diese Themenkomplexe können angesprochen werden,
wobei das Interesse des Kindes und der aktuelle Bezug
letztlich entscheiden, welches Thema gerade "dran" ist.
Es könnte auch zurückgefragt werden: "Glaubst du, dass
hier eine Arbeit ist?" - mit einer anschließenden Frage
nach der Begründung der Antwort hierauf.
|
Extro-Introspektionsfragen. Subjektivität
DENKST
DU, DASS ICH DA JETZT RUNTERSPRINGE? (5)
Die Frage kommt auf einem Spielplatz, Klara
sitzt auf dem Dach einer kleinen Hütte und
schaut nach unten.
Eine schwierige Frage, wenn Erwachsene sie aus
Erwachsenenperspektive ansehen. Es handelt sich
aber primär um ein Kommunikationsangebot und
eine Bitte um Aufmerksamkeit und Respekt.
|
Das Kind erprobt zunehmend die Grenzen seiner
Fähigkeiten, ist "mutig", probiert Dinge aus, von der
schwingenden Schaukel springen (bei den "Großen"
abgeschaut) und Ähnliches.
Die Frage markiert einen ganz neuen Fragentypus, der im
sechsten Lebensjahr auftaucht. Das Kind will wissen, was
der andere denkt und meint. Zunächst sind die Fragen auf
das Kind bezogen ("Denkst du, dass ich ...."), bald aber
auch auf Dinge ("Denkst du, dass dieses Auto auch auf
dem Rücken fahren kann?"). Fragen dieses Typus werden
oft eingeleitet mit "denkst du" oder "glaubst du".
Eine interessante Parallele gibt es zur Frage WAS HAB
ICH IN MEINER TASCHE VERSTECKT? mit zwei Jahren. Aus
dieser noch nicht gezielt kognitionsbezogenen Frage
entwickelten sich kurz vor den "denkst Du"-Fragen die
Fragen vom Typus "rate mal, ...". Ich bin gespannt, wann
die Frage WEISST DU, WAS ICH GERADE DENKE? zum ersten
Mal kommt.
Das Kind bekommt vielleicht auch schon eine erste Ahnung
von der Einsamkeit der Innenwelt, dem Grundproblem des
Verstehens, dass wir in den Anderen nicht hineinsehen
können. In dieser Zeit beginnt es auch, aufmerksam und
mit analytischer Anstrengung die Mimik von Erwachsenen
zu studieren, auch ihre sonstige Körpersprache. Was der
andere meint, nicht nur was er sagt, wird zu einem
durchgängigen Thema.
Gleichfalls gehört in diesen Kontext das Thema
"Geheimnisse". Geflüstert wird ja schon seit Vier,
danach kam die Verurteilung des "Petzens" ("wir petzen
nicht" wurde mir einmal mitgeteilt - wobei mit dem "wir"
die "wilde Gruppe" im Kindergarten gemeint war). Und nun
hat die "wilde" Gruppe im Kindergarten ihre ersten
"Geheimnisse", die "den Kleinen" nicht verraten werden.
|
Zukunft. Entwicklung
FAHREN DIE AUTOS DANN
ALLEINE? (5)
Wir hatten uns mal wieder über den dichten
Autoverkehr vor dem Wohnhaus ihrer Eltern
unterhalten. Ich sagte, dass es so nicht weitergehen
könne mit dem Autoverkehr in der Stadt. Dass die
Autos weniger und kleiner werden müssten. Sie:
"Fahren die Autos dann alleine?"
Was sie meinte, zeigte sie durch eine gestisch
unterlegte Zusatzfrage, "Muss man dann noch
kurbeln?" - wobei sie mit den Armen weitausholende
Lenkbewegungen machte. Ich erklärte ihr, dass gerade
an der Universität ihrer Stadt geforscht werde zu
Autos, die alleine lenken oder ferngesteuert werden. |
Dass an Autos geforscht werde, die alleine fahren können,
fand Klara sehr beeindruckend. Aber ein gewisses Bedauern
war auch deutlich zu spüren. Das "Kurbeln" wollte sie sich
ungern nehmen lassen. Wenn wir mal im Auto unterwegs sind,
klettert sie beim Ein- oder Aussteigen auch gerne auf den
Fahrersitz und dreht am Lenkrad. Die enorme Wichtigkeit des
Lenkens kennt sie ja auch vom Fahrradfahren. Und in der
kindlichen Entwicklung hat das selbständige Fahrradfahren
eine große Bedeutung für den Gewinn von Autonomie.
Die Frage nach den "alleine" fahrenden Autos ist bei Klara
eine der ersten Fragen, die ein Bewußtsein von Zukunft
markieren. Fragen nach zukünftigen Ereignissen waren schon
vorher da. Aber der Rückgriff auf Zeitbestimmungen wie "noch
zweimal schlafen" oder andere Indizien machten dabei meist
deutlich, dass sie noch keine klare Vorstellung von
historischen Prozessen und Entwicklungen, konkret von der
Korrelation zwischen Zeitangaben und Entwicklungsprozessen
hat. Und bemerkenswerterweise hat sie wieder einmal ein
Thema "erwischt", das für ihre Generation von großer
Bedeutung sein wird.
Wie sie auf ihre Frage kam, konnte ich nicht
herausfinden. Die erste Antwort war "hab ich gelesen".
Was eindeutig nicht stimmen konnte. Möglicherweise hatte
sie von einem älteren Cousin gehört, dass Autos bald
einmal von alleine fahren können. Mit gezielten
Nachfragen ist das so eine Sache, da auch das oft
phänomenale Gedächtnis von Kindern dieses Alters
Irrtümer produziert, da sie sich an Dinge "erinnern",
die so nicht stattgefunden haben, verschiedene
Erinnerungen kombinieren oder mal einfach (ohne
faktischen Hintergrund) nicken auf eine Frage wie "hast
du das von jemandem gehört?". Gelegentlich gibt es auch
die stolze Antwort "das hab ich selbst gedacht",
obgleich es eine konkrete Quelle gibt. Was alles ja auch
noch bei Erwachsenen vorkommt ....
|
Hypothesenbildung. Soziale Aufmerksamkeit
SCHLÄFT
DER MANN IM ROLLSTUHL? (5)
In einer unterirdischen Station der Stuttgarter
Stadtbahn, ein Mann im Rollstuhl kommt mit
Begleiterin zum Einstiegsbereich gefahren. Klara
schaut den beiden beim Einsteigen in eine Bahn
zu, eher beiläufig. Dann, als die Bahn
abgefahren ist, stellt sie leise und sachlich
die Frage "Schläft der Mann im Rollstuhl?" - mit
Akzent auf "Rollstuhl".
Die Mutter erklärt, dass er sicher auch in einem
Bett schlafe. Dass er seine Arme ja noch bewegen
könne und sich abstützen und so ins Bett
steigen. Und dass ihm seine Frau vielleicht auch
helfe dabei. Damit ist sie zufrieden. |
Der Unterschied zu ähnlichen Fragen noch vor einem
Jahr ist auffallend. Die Frage nach Behinderungen wird
nicht mehr in Gegenwart der Betroffenen und nicht mehr
in aufgeregt-lautem Ton gestellt. Ist Klara früher in
ähnlichen Situationen noch zumindest einen Schritt näher
rangegangen, gelegentlich sogar direkt zum Rollstuhl,
bleibt selbst die Körpersprache nun zurückhaltend. Sie
hat soziale Rücksichtnahme in diesem Bereich gelernt und
ihr Interesse richtet sich nicht mehr auf das ""Was" und
"Woher" einer Behinderung, sondern auf konkrete Fragen
der Lebensführung mit Behinderung.
Die Frage wendet sich einem Bereich zu, der
gesellschaftlich nach wie vor mit Tabus belegt ist.
Verfehlt wäre es, diese Tabus noch zu stärken durch
ausweichende Antworten oder gar eine Zurückweisung der
Frage. Die Frage zielt auch nicht auf einen umfassenden
Diskurs zum Thema Behinderung, sondern hat ein klares,
eng umrissenes Anliegen. Eine naheliegende Paraphrase
ist die Frage, wie jemand, der nicht gehen kann, ins
Bett gehe. Eine andere wäre, ob jemand, der einen
Rollstuhl benötigt, seine ganze Zeit im Rollstuhl
verbringe. Die Umgangssprache kennt ja den Ausdruck "an
den Rollstuhl gefesselt sein". Wer diesen Ausdruck einem
Kind gegenüber verwendet, sollte sich dessen bewußt
sein, dass Kinder diese Frage durchaus wörtlich
verstehen können.
Das Kind stellt hier nicht nur eine Frage, sondern
äußert zugleich eine Vermutung, formuliert eine
Hypothese - eine Leistung, die letztlich hinter allen
Entscheidungsfragen steht, die hier aber besonders
deutlich wird. Nebenbei schneidet sie ein äußerst
aktuelles Thema an, das der Pflege. So wird der
Roboter-Einsatz in der Pflege wesentlich vorangetrieben
durch die erwartete Hilfeleistung beim Übergang vom Bett
in den Rollstuhl und umgekehrt.
|
Extro-Introspektionsfragen. Warum-Nachfragen.
Freundschaft. Geheimnis. Macht
WAS DENKST DU, WER
MEINE BESTE FREUNDIN IST? - WARUM? (5)
Klaras Frage zu meinen Vermutungen über
ihre beste Freundin kommt im Kontext eines
längeren Gespräches über Vorlieben und Verhalten
in (Kindergarten-)Gruppen. Die Nachfrage
"Warum?" reagiert auf meine Antwort.
In der Regel ist die Antwort auf die Kernfrage
(und ähnliche Fragen dieses Typus) klar, wenn
man das Kind und sein Umfeld kennt. Auf die aus
meiner Sicht eigentlich selbstverständliche
Antwort kommt nun überraschend ein "Warum?" Eine
mögliche Antwort wäre: Du hast schon viel von
ihr erzählt, machst viel mit ihr zusammen.
|
Das Kind erklärt nun nicht mehr jedes Mädchen, mit
dem es auf dem Spielplatz mal spielt, gleich zur
Freundin. Der Begriff wird spezifischer, gehaltvoller.
Beziehungen zu anderen Kindern wurden zunächst bei
Verwandtschaftsbeziehungen über den Moment hinaus
gehoben, Cousinen und Cousins (in geringerem Umfang auch
Nachbarskinder) waren die ersten auch längeren Abstand
überdauernden Beziehungen im Bewußtsein des Kindes. Dann
kamen Kindergartenfreundschaften dazu. Diese Entwicklung
steht hinter dem Konzept von der "besten Freundin".
Die Nachfrage "Warum?" (dritte "Warum"-Phase, nach
einübenden Einwortfragen und wissensorientierten
Realienfragen nun bei explorierendem Nachfragen)
verweist auf ganz andere Entwicklungsbereiche. Zum einen
entwickelt das Kind selbst Interesse an den
Einstellungen und Gedanken anderer, zum anderen nimmt es
wahr, dass andere sich für seine Motive und inneren
Prozesse interessieren. Damit unmittelbar korreliert ist
die zunehmende Bedeutung von "Geheimnissen" - bei denen
es auch darum geht, was man vor anderen verbergen kann,
was nicht.
Mit dieser Frage möchte das Kind offensichtlich etwas
darüber lernen, was in anderen Köpfen vor sich geht.
Eventuell steht hinter der Frage auch der Verdacht,
Erwachsene könnten Gedanken lesen, irgendwie das
empfinden, was das Kind empfindet. Eine spannende
Entwicklungsphase, in der sich nun die Grundlagen für
differenzierte Ich-Du-Beziehungen ausformen.
|
Hypothesen-Fragen. Schlussfolgerungen. Kundenbindung
GIBT ES DIE KEKSE
BEIM DM? (5)
Klara stellte die Frage, als sie sich bei einem
Zoobesuch den vorletzten Keks aus einer Packung
genommen hat. Die Kekse waren von der Mutter einer
Freundin Klaras, die wir etwa zwei Stunden zuvor am
Zooeingang getroffen hatten. Die Mutter hatte u.a.
erzählt, dass die beiden gerade "im DM" gewesen
seien.
Ich antwortete, dass dies möglich sei, da die
Mutter, von der die Kekse waren, ja von einem
Einkauf bei DM erzählt hatte. |
Gemeint ist die Drogeriemarktkette DM (vom
Unternehmen selbst "dm" geschrieben).
Bemerkenswert ist hier das Vermögen des Kindes, auch
über größere zeitliche Distanz bei einer neuen
Aktualisierung eines Themas (in diesem Falle, als sie
den vorletzten der Kekse genommen hatte und nun
überlegt, ob wir den letzten teilen) einen Denkakt
abzuschließen, eine thesenartige Schlussfolgerung zu
ziehen. Eine Fähigkeit, die sicherlich schon länger
besteht, die hier aber besonders deutlich wird.
Offensichtlich hatte sie "DM" und "Kekse" schon bei der
Begegnung am Zooeingang miteinander in Verbindung
gebracht, aber erst als die Kekse zuende gehen, will sie
das abschließend klären.
Zum zweiten ist interessant, dass für sie nun Laden
nicht mehr gleich Laden, Einkaufen nicht mehr gleich
Einkaufen ist. Es gibt bestimmte Kekse nicht in jedem
Laden, das ist eine wichtige Einsicht, die
Werbestrategen (die hoffentlich hier nicht mitlesen)
einen Hinweis geben kann, ab wann sie nicht nur über
Produkte, sondern auch über die Handelskette Kleinkinder
als Kunden bzw. zur Kundensteuerung (nämlich der
einkaufenden Bezugsperson) binden können. Und zwar
unabhängig von Sammelbildchen, die doch überwiegend bald
im Papierkorb landen.
Kritische Eltern könnten bei dieser Frage gleich
erklären, dass es diese oder ähnliche Kekse auch in
anderen Läden gebe und wichtiger sei, was ein Laden
insgesamt und in welcher Qualität und zu welchem Preis
anbiete. Und dass auch die Lage des Ladens zur eigenen
Wohnung oder zu eigenen Wegen wichtig sei.
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Beutegreifer. Tier-Mensch-Differenz. Ernährung.
Körperlichkeit
ESSEN DIE
AUCH MENSCHENFLEISCH? (5)
Die Frage fällt im Zoo, bei den Großkatzen. Wir
selbst sind dort auf einer Bank beim
Apfelschälen. Klara blickt von unserem Imbiss
auf zu den Pumas und fragt ESSEN DIE AUCH
MENSCHENFLEISCH?
Auf meine Antwort, dass Raubkatzen Menschen nur
sehr selten angreifen, insistiert sie, ob die
aber Menschenfleisch essen würden. Ich erkläre,
dass die keinen Unterschied machen würden, wenn
sie Hunger haben. Dass sie aber Menschenfleisch
eigentlich nicht mögen und Menschen ausweichen.
Sie: "Aber wenn jetzt ein Kind dort rübersteigt,
und dann die Hand in den Käfig streckt, dann
würde er doch beißen, oder?" Als ich diese
Möglichkeit einräume will sie noch wissen, ob er
die Hand dann fressen würde. |
Hier überkreuzen sich verschiedene kindliche
Diskurse. Zum einen der Themenbereich "Fleischfresser".
Sie sieht offensichtlich eine Parallele zu den Menschen,
weshalb das Thema "Tiere fressen Menschen" für sie
lediglich die Spiegelung von "Menschen essen Tiere"
darstellt. Zum zweiten beteiligt ist der
Mensch-Tier-Unterschied. Natürlich weiß sie, dass
Menschen es normal finden, Tiere zu essen, dass sie es
aber höchst unnormal finden, wenn Tiere Menschenfleisch
fressen. Eine für sie nachvollziehbare Begründung dafür
hat sie noch nicht - und bezogen auf kleine Tiere würde
sie auch keine Begründung akzeptieren, die "fressen" für
sie nicht, sondern essen ganz lieb und vorsichtig. Zum
dritten geht es ihr um die geheimnisvolle Kategorie
"Raub-", weshalb sie die Bezeichnung "Raubkatzen" viel
interessanter findet als die Bezeichnung "Großkatzen".
Da schwingt für sie das "Räuber"-Bild aus
Kindergeschichten mit. Zum vierten weiß sie natürlich
auch um die Verletzlichkeit des Körpers. Weshalb das
Thema Armbruch und Handbruch sicherlich nicht zufällig
dann anschließend an den Besuch bei den Großkatzen
aufkommt. Wobei sie wissen möchte, ob ein gebrochener
Arm abfallen könne.
Auffallend ist, wie beharrlich sie an ihrem Thema bleibt
und wie sachlich sie bis in Verästelungen hinein
erörtert, was sie da offensichtlich beschäftigt. Sie
hält sich dabei gelegentlich zwar gruselnd die Hand vor
den Mund und zieht große Augen, bleibt aber beim Thema,
fragt weiter und spekuliert weiter.
|
Wissen. Überlieferung. Autoverkehr
WOHER WEISST DU DAS?
(5+)
Bei der Parkplatzsuche mit dem Auto
klage ich, wie schwierig es sei, einen Parkplatz
zu finden. Da meint sie von hinten, vom
Kindersitz her, "Das ist halt so mit dem Auto".
Und ergänzt: "Früher gab es weniger Autos, da
musste man keinen Parkplatz suchen, oder?" Ich
bestätige, dass es einfacher gewesen sei, und
berichte auch, wie langsam die ersten Autos
waren und laut und stinkend. Da stellt sie die
Frage "Woher weißt du das?".
Zwei Antworten bieten sich vor allem an. Einmal
der Verweis auf mündliche Überlieferung - also
etwa "von meinem Vater, und der weiß es von
seinem Vater, meinem Großvater" - oder
entsprechend Mutter-Großmutter. Das sollte dann
aber auch glaubwürdig sein. Zum anderen kann
sinnvoll sein der Verweis auf Bücher, hilfreich
auch als Motivation zum Lesenlernen. |
Die Frage kam früher auch gelegentlich, hatte
dann aber noch eindeutig die Bedeutung von "warst du
dabei?" Diese Dabei-Gewesen-Sein-Fragen trugen
sicherlich zur Entwicklung des historischen Bewußtseins
bei, das sich inzwischen immer häufiger zeigt. Sie weiß,
dass es Zeiten gibt, von denen es keine Zeitgenossen
mehr gibt, bekommt eine erste Ahnung von
Wissenstradierung, verlässt die kindliche
Gleichzeitigkeit, für die es z.B. möglich ist, dass die
Mama schon lebte, als die Oma ein Kind war.
Fragen dieses Komplexes häufen sich gerade. Als ich eine
Woche zuvor von einem Strafzettel erzählt hatte, den ich
bekam, weil ich im Anwohner-Parkbereich stand, ohne
Anwohner zu sein, fragte sie "Woher wissen die das?" -
Woher weiß also die Polizei, dass ich dort nicht wohne,
wo ich geparkt hatte? Ich erkläre, was ein
Anwohnerausweis ist und wie der funktioniert (bei der
nächsten Gelegenheit zeigte ich ihr auch einen).
Allgemein spielt die Kategorie "Wissen" nun eine große
Rolle. Als ich am gleichen Tag fragte "Glaubst du, dass
die Eisbahn (Schlittschuhbahn) am Sonntag schon öffnet?"
antwortete sie selbstbewusst "Das weiß ich!"
Es kreuzen sich hier also zwei Anliegen. Das Kind
erarbeitet sich eine Vorstellung davon, wie
Wissensbestände überliefert werden können. Dies steht im
Zusammenhang mit der Entwicklung eines historischen
Verständnisses - das ich hier ganz eng familiär
anspreche mit der Linie Großeltern-Eltern-Ich. Zugleich
geht es dem Kind um den Wissenserwerb und die
Informationsübermittlung.
Ich nahm die Frage nach dem Autoverkehr auch zum Anlass,
mich selbst mal wieder mit der Geschichte des
Autoverkehrs zu beschäftigen und stieß dabei auf die
lange verschwiegene Frühgeschichte des Elektroautos, das
Anfang des 20. Jahrhunderts (wie auch die Dampfautos)
dank der Erfindung des Anlassers und mit Unterstützung
der Ölindustrie von den Benzinern und Dieselmotoren
verdrängt wurde. Aus Kinderfragen lernen geht auch mal
so ...
|
Beziehungen. Freundschaft. Stringenz
DARF MAN SEINE
FREUNDE WECHSELN? (5+)
Wir saßen am Küchentisch und aßen. Dabei plauderte
sie über den Kindergarten. Dann stand sie plötzlich
auf und stellte mit sehr ernstem Gesicht die Frage
"Darf man seine Freunde wechseln?".
Ich antwortete, dass man nach einem großen Streit
manchmal die Freunde wechseln müsse. Oder wenn man
umzieht. Dass man sich aber auch wieder versöhnen
könne oder nach einem Umzug den alten Freunden
Briefe schreiben. "Oder sie besuchen", ergänzte sie.
|
Eine der Fragen "aus heiterem Himmel", die allerdings eine
konkrete situative Anknüpfung hatte. Denn das Thema stammte
von einer Kindergartenfreundin, von der sie mir gerade einen
Brief vorgelesen hatte. Und so erläuterte sie selbst ihre
Frage: "Die Pia hat gesagt, man darf seine Freunde nicht
wechseln! Aber dann hat sie beim Stuhlkreis zu einem Mädchen
gesagt 'Du bist nicht mehr meine Freundin!'"
Was sie beschäftigte, war offensichtlich vor allem der
Widerspruch im Verhalten ihrer Freundin. Das erst hat sie
augenscheinlich zur Frage geführt, was es überhaupt auf sich
habe mit dem moralischen Gebot, Freunde nicht zu wechseln.
Ich erklärte ihr, dass es darum gehe, Freunde nicht einfach
so aus einer Laune heraus zu wechseln. Dass Kinder aber ihre
Freunde noch oft wechseln und auch schnell einmal sagen "Du
bist nicht mehr meine Freundin" - sich dann aber auch
schnell wieder versöhnen. Dazu lächelte sie und schien zu
verstehen, dass Kinder auch in dieser Hinsicht noch anders
sind als Erwachsene, dass sie Freundschaft gleichsam noch
"üben".
Die Frage steht auch vor dem Hintergrund, dass einige ihrer
ehemaligen Kindergartenfreundinnen nun zur Schule gehen und
sie diese nur noch selten sieht, aber doch als Freundinnen
zu bewahren sucht. Mit der Sorge, sie zu verlieren und dem
Bewußtsein, inzwischen bereits andere
Kindergartenfreundinnen gefunden zu haben. In gewissem Sinne
also auch "gewechselt" zu haben.
|
Warum-Nachfrage. Theodizee
WER HAT
DIE BREMSEN GEMACHT? - WARUM? (5+)
Wir hatten uns über stechende und beißende
Insekten unterhalten und Klara erzählte von
einer Bremse, die die Mama gestochen habe, "da
hat sie sogar einen Verband gebraucht!" Und dann
kam die halb anklagend vorgebrachte Frage "Wer
hat die Bremsen gemacht?"
Da sie sonst den "lieben Gott" als Macher kennt,
antworte ich "Auch der liebe Gott". Sie:
"Warum?" Ich: "Er wollte, dass es viele
verschiedene Tiere gibt." "Aber Bremsen sind
doch ähh!" - sie schüttelt sich theatralisch und
mit abwehrenden Gesten. |
Ganz ist das noch nicht die Frage nach der Theodizee, aber
der Weg dahin ist deutlich erkennbar. Kulturgeschichtlich
wurde bei solchen Fragen gerne auf den Teufel oder sonst ein
böses, dem "guten" Schöpfergott entgegenstehendes Prinzip
verwiesen. Ich habe es nicht bedauert, dass wir diese
Möglichkeit heute nicht mehr haben. Sie schien mit meiner
Antwort für den Anfang auch durchaus zufrieden zu sein.
Obgleich sie Bremsen "ähh" findet.
Ich meinte dann noch: "Manche Tiere finden es auch nicht
gut, dass der liebe Gott die Menschen gemacht hat." Sie
wollte wissen, welche Tiere das nicht gut finden und nahm
protestierend zur Kenntnis, dass der Mensch vielen Tieren
den Platz zum Leben wegnehme, den Bären zum Beispiel. "Das
ist doch gemein!" Dass für Wurst und Fleisch z.B. Schweine
getötet werden, die den Menschen dafür gewiss auch nicht
mögen, nahm sie eher gelassen zur Kenntnis, die Kategorie
Tod ist noch immer sehr vage für sie, außerdem "werden ja
keine kleinen Tiere getötet", wie sie verkündete. Dann
berichtete sie, sie habe im Kindergarten nur die Wurst
gegessen, das andere habe ihr nicht geschmeckt. Der Satz
"Ich esse keine Wurst mehr!" sollte erst etwa ein Jahr
später kommen.
|
Extro-Introspektionsfragen.
Sachwissen
WOHER WEISS DER
BLINDENHUND, WO DER BLINDE HIN MÖCHTE? (5+)
Klara hat ein Hundebuch. Darin gibt
es auch die Abbildung eines Blindenhundes, auf
die ich sie aufmerksam mache. Sie schaut das
Bild an und stellt dann ihre Frage. Und fügt
an "Sagen kann der Blinde ihm das ja nicht,
oder?" Wobei sie lacht.
Im ersten Augenblick bin ich perplex und
behelfe mir mit einem "Das ist eine gute
Frage!" - was sie sichtlich irritiert, oft
scheint sie diese Reaktion noch nicht erlebt
zu haben. Mir hilft die Pause, meine Gedanken
zu sortieren und ich antworte mit dem, was ich
weiß. |
Diese Frage signalisiert deutlich den Abschluss
einer Epoche. Sprachlich hat das Kind ein Niveau
erreicht, das komplexe Gespräche ermöglicht. Seine
Fragekompetenz ist so weit entwickelt, dass es sein
Wissen umfassend erweitern kann. Und sein Weltwissen
erlaubt nun auch gezielte Fragen nach Sachwissen und
die Einordnung von neuem Wissen in alte Bestände. Dass
der Binde dem Hund einfach sage, wo er hin möchte,
schließt Klara schon einmal selbst aus. Interessant
ist diese Frage auch im Kontext der anderen "woher weiß/t
(X/du)"-Fragen, die sich in diesem Alter häufen. Die von
mir auf dieser Website aufgeführten Frageeinleitungen
"Woher weißt du ...", "Woher weiß die Polizei ...", "Woher
weiß der Blindenhund ..." stehen für die ganze Weite
dieses Feldes.
Nun ist es allerdings durchaus so, dass Hunde einfache
Aussagen verstehen, darauf ausgebildet werden, z.B.
"rechts" und "links" zu erkennen. Ich erkläre ihr das auch
und sie kann schon damit umgehen, dass die Wahrheit
zwischen dem einfachen "Tiere können nicht reden" und der
Kinderbuchwirklichkeit "Tiere reden wie Menschen" liegt.
Mit Fragen wie dieser wird der Horizont dieser Sammlung
schon ein stückweit verlassen. Wie stark sachbezogen und
wie detailliert die Frage beantwortet wird, hängt vom Kind
und seinen Reaktionen auf die Antworten ab. Das Spektrum
reicht vom Hinweis auf die Klugheit von Hunden über die
Darlegung des Zusammenspiels von Blindem (der den Weg ja
kennt) und Hund (der vor allem auf Gefahren unterwegs
achten muss, aber die wichtigen Wege des Blinden auch
schon kennt) bis zur Beschäftigung mit den
Trainingsprogrammen von Blindenhunden.
|
Interventionsfrage. Sprachliche Teilhabe
WORÜBER SPRECHT
IHR? (5+)
Ich habe mich mit dem Vater des Kindes über die
Reaktionen der Bahn auf die Konkurrenz durch
Fernbusse unterhalten. Das Kind hörte aufmerksam
zu und fragt dann in einer kurzen Gesprächspause:
"Worüber sprecht ihr?"
Der Vater erklärt kurz das Thema, das Kind ist
zufrieden und hat etwas weiterführend bewirkt: Wir
wählen dann ein Thema, das mit ihm zu tun hat,
nämlich wie es demnächst mit Bahn und Bus zur Oma
fährt, auf welchem Weg und was man gegen Übelkeit
beim Busfahren machen kann. |
Eine Frage, die vor zwei Generationen noch
Irritation bei Erwachsenen, lächelnde oder bisweilen
gar grobe Zurückweisung bewirkt hätte im Stile von
"Das verstehst du nicht!" Ein Kind, das bei
Erwachsenen mitreden möchte - wie ungezogen! Auch wir
waren zunächst etwas irritiert, allerdings aus anderen
Gründen. Wir fragten uns, wie man dem Kind das doch
eher komplexe Thema erklären könne.
Heute markiert die Frage einen ganz anderen Status der
Beziehung als zu den Zeiten von "wenn Erwachsene
reden, schweigen Kinder". Einen Status, der das
überkommene "das verstehst du nicht" verbietet.
Dominierende Auffassung inzwischen ist ja, dass es zu
jeder Frage eines Kindes eine Antwort gibt, die seinem
jeweiligen Anliegen gerecht wird. Die Aufgabe für
Erwachsene besteht darin, ein Phänomen so zu
beschreiben, dass das Kind es in seine Weltsicht
einordnen kann. Dass es dazu grundsätzlich in der Lage
ist, zeigt sein Fragen - sieht man von der Phase
repetitiver "Warum"-Fragen einmal ab, die primär die
Funktion hat, die Struktur von Begründungen und
Kausalität zu "lernen".
Die Frage markiert die Fähigkeit zur rhetorischen
Gesprächslenkung. Statt zu sagen, "mir ist
langweilig", oder sich einfach mit einem eigenen Thema
ins Gespräch einzuhaken, holt uns das Kind mit seiner
Frage da ab, wo wir gerade sind. Möglicherweise hat es
sich auch wirklich dafür interessiert, worum es geht.
Wie auch immer, die rhetorisch-gesprächslenkende
Funktion war unübersehbar präsent.
|
Semantik, Objektivität, Bedeutung von
"alt" und "jung"
IST DIE FRAU DA ALT?
(5+)
Ich habe Klara einen Videoclip mit "Donna Donna" von
Joan Baez gezeigt, in welchem Baez auf schönen Fotos
und Zeichnungen gezeigt wird, in verschiedenen
Altersphasen. Sie deutete auf einige der Bilder und
kommentierte: "jung", "alt", "mittel". Bei manchen
zögerte sie, besonders bei einer Zeichnung: "Ist die
Frau da alt?"
Die Zeichnung zeigt Joan Baez Mitte Dreißig, aber
mit starken, schwarzen Linien. Ich erklärte Klara,
dass die Frau hier "mittel" sei. Dass sie etwas
älter wirke durch die dicken Striche. |
Es ist spannend zu sehen, wie das Kind hier bemüht
ist, die gesellschaftlichen Konventionen von "jung" und
"alt" und die Merkmale für diese Zuordnungen zu lernen.
Und es ist für mich erstaunlich, wie spät diese Begriffe
sich nun allmählich bilden. Zunächst waren Menschen mit
grauen Haaren tendenziell "Opa" oder "Oma". Und andere
Erwachsene "Papa" und "Mama". Dann wurden alle gemeinsam
zu "Erwachsenen" bzw. "Mann" oder "Frau". Ihnen
gegenüber standen die "Kinder", "Jungen" und "Mädchen".
"Mama", "Papa", "Oma" und "Opa" wurden zu primär
familiären, nur residual noch altersbezogenen
Kategorien. Seit etwa einem halben Jahr fragt Klara nun
aber immer wieder mal danach, ob jemand - auf
Abbildungen - jung oder alt sei.
Übrigens beginnt sie zur gleichen Zeit zu gendern. Bei
den Piraten (nicht der Partei, sondern den Seeräubern,
die sie faszinieren) gibt es nun einen "Chef" und eine
"Chefin". Ich frage zu einer Geschichte von einem
kleinen Kugelfisch und einem kleinen Tintenfisch, die
sie immer wieder erzählt haben möchte, ob wir denen
Namen geben sollen, und welche. Sie sagt: "Anja" und
"Mira". Dann aber, als ich so zu erzählen beginne,
schüttelt sie den Kopf: "Nein, einfach 'kleiner Fisch'".
Es scheint, als möchte sie im Geschichtenerzählen noch
den Bereich bewahren, in welchem es nicht die
Komplikationen von "männlich-weiblich" und "jung-alt"
gibt.
Sprachlich zeigt dieses Beispiel wieder einmal sehr
anschaulich, wie die Semantik in Anwendungsbereichen
gelernt wird. Wobei eindeutig - noch - die Erwachsenen
maßgeblich sind mit ihren Auskünften. Auch wenn immer
öfter mal ein "ich finde aber ..." erscheint.
Ein Verständnis von "alt" und "jung" entwickelt sich
jedoch erst in der Pubertät. Davor dominiert die
Unterscheidung "Kind-Erwachsener".
|
Die Bedeutung von "bedeuten". Semantik
WAS BEDEUTET
"NAGELN"? (5+)
Die Frageeinleitung "Was bedeutet ..." erschien bei
Klara häufig im Kleinkindalter. In diesem Fall war
sie auf das Verb "nageln" gerichtet. Ich wollte eine
Girlande an die Wand nageln und kündigte dies an.
Als ich erklärte, dass "nageln" bedeute, etwas mit
einem Nagel zu befestigen, schaute sie nachdenklich.
Dann kam die eher feststellende Frage: "Damit das
nicht runterfällt?!" |
Die Frageneinleitung "was bedeutet ..." ist eine
Variante von "was heißt ...", mit einer entscheidenden
semantischen Verschiebung. Die Frage richtet sich nicht
(mehr) primär auf Synonyme oder Paraphrasen, sondern auf
Anwendungsbedingungen für Wörter. Das macht der Kontext
deutlich, nicht die Verwendung von "bedeuten" statt
"heißen"! Die Umgangssprache verwendet
"heißen" ja häufig im Sinne von "bedeuten" - daran kann sie
die Differenz also nicht lernen. Ob das Kind auch schon den
Unterschied zwischen Namen und Begriffen klar verstanden
hat, bleibt offen. In anderen Kontexten zeigt sich, dass
dies nicht der Fall ist.
Natürlich kannte sie das Wort "Nagel" schon und auch
"nageln" dürfte sie schon gehört oder auch verwendet haben -
allerdings in der Verbindung mit groberen Holzarbeiten, mit
Brettern, mit Kisten, etwa auf einem "Abenteuerspielplatz".
Bemerkenswert ist, dass sie meine Erläuterung "etwas mit
einem Nagel befestigen" offensichtlich unbefriedigen fand
für die Bestimmung von "nageln". Sie teilte mir in ihrer
Nachfrage ("Damit das nicht runterfällt?") mit, was für sie
wichtig am "Nageln" sei.
Sie stellt hier den konventionellen, eng semantischen
Begriff von "Bedeutung" implizite in Frage und führt eine
eigene Auffassung ein. Für sie bedeutet "nageln" auch,
vielleicht sogar vorrangig, dass nun der genagelte
Gegenstand nicht runterfällt. Somit geht in die Bedeutung
auch die Folge einer Tätigkeit ein. Sie formuliert damit
einen ganz eigenständigen Ansatz zu einer pragmatischen
(nicht im Sinne des Sprechhandelns, sondern des
Welthandelns) Begründung von Semantik.
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Erforschung der Erwachsenensprache
WAS HAST
DU GESAGT? (5+)
Der Erwachsene war etwas verärgert über die
dritte Schwindelei/Stibitzerei des Kindes kurz
hintereinander und meinte "Du machst heute
komische Sachen". Mit einem leichten Beiton von
schlechtem Gewissen wollte das Kind wissen, "Was
hast du gesagt?"
Als der Erwachsene ruhig erklärte, dass das Kind
sich heimlich Süßigkeiten genommen habe und das
dann abgestritten habe, nimmt es das als Kritik
an. |
Das Kind nimmt die Differenzen zwischen seiner
eigenen Sprache und der Erwachsenensprache allmählich
bewusst wahr und "erforscht" die Erwachsenensprache mit
ihren rhetorischen Besonderheiten, erfragt nun auch
häufig die Bedeutung von Ausrufen oder Gebrummel. Gibt
der Erwachsene mal nebenher ein zu sich selbst
gesprochenes "so" von sich, kommt sofort eine Nachfrage,
"was hast du gesagt?" oder "warum 'so'?".
Und es nimmt immer präziser die Differenz zwischen
Semantik und Pragmatik wahr, erprobt etwa mit forschem
Grinsen die Pragmatik von Wendungen wie "Alles klar!".
Es ist dabei zu spüren, wie das ganze Spektrum dieser
Wendung von "In Ordnung" über "Mach dir keine Sorgen"
bis hin zu "Lass mich in Ruhe" ausgekostet wird.
Interessant ist hier vor allem, dass das Kind nicht
fragt, was "komische Sachen" bedeute, oder in sonstiger
Weise auf den Inhalt der Äußerung eingeht, sondern
formal um eine Wiederholung der Äußerung bittet, dabei
aber in Ausdruck und Mimik signalisiert, dass es den
Sprechakt des Vorwurfes durchaus mitbekommen habe.
Sicherlich ist diese Kommunikationssituation sehr
komplex und meine Ausführungen dazu sind notwendig
spekulativ. Was im Kind vorgeht bei einer Nachfrage wie
dieser ist nur jeweils kontextuell zu erschließen. Ich
hatte den Eindruck, dass das Kind hier einerseits ein
sprachlich-forschendes Anliegen hatte, meinen Ausdruck
verstehen wollte, dass es andererseits aber auch über
die Situation sich austauschen wollte, über ihr
"Schwindeln" und meine leichte Verärgerung darüber.
Im Kontext der Sprachentwicklung bedeutsam ist die
zunehmende Sensibilität für und das Interesse an
Sprachhandlungen, deren referentieller Gehalt sich nicht
mehr unmittelbar erschließt, insbesondere die Bereiche
von Interjektionen und indirekten Sprechakten.
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Zeiträume
WIE LANG
IST EINE WOCHE? (5+)
Eine Kindergartenfreundin feiert Geburtstag in
einer Woche, Klara ist eingeladen. Sie liest mit
mir die Einladung und fragt "Wie lang ist eine
Woche?".
Als ich antworte "Sieben Tage" meint sie: "Boa,
das ist ja lang! Sieben Mal schlafen!" |
Immer noch hilft der Bezug auf das "Schlafen" bei
Zeitangaben über den Tag hinaus. Allerdings gewinnen die
Zahlen der Zeit einen eigenen spezifischen Gehalt,
sieben Tage wird schon mit einem gewissen Verständnis
als "lang" empfunden. Nun kommt auch die Frage "wie alt
bist du?" an Erwachsene. Und zwar nicht einfach als
Retoure zur häufigen Frage an das Kind, wie alt es sei -
solche Retouren (etwa auch auf die Frage "Wie heißt
du?") sind den meisten Kindern ohnedies fremd. Klara
fragt nicht einfach nur zurück, sondern weil auch
Lebensalter allmählich von ihr verstanden wird und es
sie interessiert, was eigentlich "alt" bei Menschen
bedeutet, wer älter, wer jünger ist. Dabei kommen "lang"
und "alt" bisweilen eindeutig positive Wertsetzungen
bei, analog zu "groß" (Kinder, Autos, Häuser, Kuchen)
und "schnell" (Läufer, Tiere, Autos).
Auffallend ist, dass die Differenzierungen in den
zeitlichen Vorstellungen weitgehend parallel laufen mit
den Differenzierungen in den räumlich-geografischen
Vorstellungen. Das Kind beginnt nun auch, sich für den
Globus und Kartenwerke über den eher flüchtigen Blick
hinaus zu interessieren und formuliert Sätze wie "Man
sagt, die Erde sei eigentlich ganz klein!". Gemeint ist
hier im Bezug zum Kosmos, der ihm allerdings
konzeptionell noch fremd ist. Darauf verweist auch die
Satzeinleitung "man sagt".
Die Vorstellungen vom Zeitbewußtsein bei Kindern werden
nach wie vor dominiert durch die Arbeit von Heinrich
Roth, "Kind und Geschichte", erste Auflage 1955. Roth
setzt für das Kleinkind ein "naives Zeiterleben" an. Die
Phase des "Zeitwissens" beginnt für den Autor mit dem
Schulalter. Das naive Zeiterleben sei bestimmt durch das
konkrete Erleben und Handeln des Kindes - im
vorliegenden Beispiel zeigt sich ein Beleg hierfür im
Bezug auf das "Schlafen", obgleich sich zugleich schon
eine Ablösung hin zur abstrakten Zeiterfassung
abzeichnet.
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Beziehungsnetze. Gruppenzugehörigkeit.
Geteilte Welt
KENNST DU DEN? (5+)
Sie erzählt mir von einem Jungen aus dem
Kindergarten, der jetzt zur Schule gehe und den sie
gerade auf der Straße gesehen habe. Dann schaut sie
mich betont interessiert an und fragt "Kennst du
den?"
Ich erinnere mich an den Jungen und sage das, was
sie wohlwollend-freudig, aber auch ein wenig
überrascht zur Kenntnis nimmt. |
Ich habe mich mit dieser Frage öfter beschäftigt. Sie
hatte einen neuen Ton, den ich nicht klar zu deuten
verstand. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich zum
ersten Mal fragte, was es eigentlich für mich/für
Erwachsene bedeutet, wenn sie von ihrem persönlichen
Umkreis, ihren Freunden erzählt. Vermutlich hatte sie
die Frage in Erwachsenenkommunikation aufgeschnappt und
interessant gefunden. Aber offensichtlich hatte sie auch
ein Anliegen, das sie damit bearbeiten konnte.
Gerne ist ja die Rede von der Eigenwelt der Kinder, hier
wurde etwas spürbar davon und auch von dem Interesse,
diese Welt mit der Welt ihrer Erwachsenenkontakte zu
vermitteln. Sie stellte mir diese Frage in der Folge
dann noch öfter, selbst bezogen auf eine - etwas fernere
- Freundin von ihr, mit der wir mal gemeinsam bei einer
Kinderchor-Probe und auf dem Spielplatz waren. Auch da
war sie erstaunt, dass ich diese Freundin kannte. Wie es
scheint, bin ich in einem gewissen Sinne nicht anwesend,
wenn sie mit MItgliedern ihrer Kinderwelt agiert. Und
nun registriert sie erstaunt, dass ich ja doch anwesend
war/bin. Bislang hat das Kind seine
Freundeswelt und die Bekanntschaftswelt der Erwachsenen eher
getrennt gesehen. Zwei Blasen, die nebeneinander existieren
bzw. nur im engsten Bereich, dem der Familie, sich
überschneiden. Nun nimmt sie bewußt zur Kenntnis, dass auch
Erwachsene, die nicht täglich mit ihr zu tun haben, zur
Kenntnis nehmen, wer zu ihrer Welt gehört, bzw. in dieser
Welt auch irgendwie mit anwesend sind.
Eventuell wollte sie auch "richtiges" Kennen erfragen, ob
ich etwa mal mit dem gesprochen habe oder gar bei ihm und
seinen Eltern zuhause war. Allerdings kam keine Nachfrage in
diese Richtung, auch in späteren Fällen nicht. Ich vermute
daher, es ging doch eher um den Anteil, den ich an ihrer
Welt durch Interesse nehme, also letztlich darum, ob ich
wahrnehme, wer ihr wichtig ist. Dazu gehören auch Fragen
wie, "Was denkst du, wer meine beste Freundin ist?".
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Eintritt in die Geschichte, Gedächtnis,
Gemeinschaft
ERINNERST
DU DICH NOCH? (5+)
Sie fand in einer Spielzeugkiste einen
Mini-Sonnenschirm, der einmal als
Eisbecher-Dekoration diente, zeigte mir den und
fragte "Erinnerst du dich noch?".
Ja, ich erinnerte mich noch an die Situation,
und sie fand es spannend, die Situation
gemeinsam zu rekonstruieren. |
Wir hatten vor etwa 10 Monaten auf einer kleinen
Feier nach einem Eisbecher-Auslöffeln mit
den Deko-Schirmchen gespielt (mal als Regen-, mal als
Sonnenschirme). Der Satz klang etwas fremd aus ihrem Mund
und war vermutlich ein Großmutter-Zitat. Aber sie hatte sich
den Satz doch spürbar schon zu eigen gemacht. Und sie
stellte damit explizit eine Verbindung "auf Augenhöhe" mit
Erwachsenen her, die einander und Kinder öfter mal fragen
"erinnerst du dich noch?".
Die Botschaft hieß auch: Schau, ich erinnere mich, ich habe
eine Geschichte, eine gemeinsame Geschichte mit euch
Erwachsenen. Und ich kann dir nun eine Frage stellen, die
sonst nur Erwachsene stellen. Ihr Vermögen, eigene
Geschichte zu erinnern, entwickelte sich in der Folgezeit
dann rapide, jedoch sehr selektiv. Ich wunderte mich immer
wieder, was sie erinnerte - und was nicht! In der Regel
waren die Erinnerungen an Orte und Dinge gebunden, oft
spielte Essen (Eis, Süßigkeiten, Kuchen) oder Tiere (Wespen,
Enten) eine Rolle. An eigene Aussagen erinnerte sie sich
dagegen kaum, an ihr Verhalten bisweilen.
Eineinhalb Jahre später kam dann, mit Sieben, öfter die
Frage "weißt du noch ...?". Immer noch mit einer gewissen
Überraschung dabei, einer verwunderten Begeisterung darüber,
dass ihr etwas plötzlich erkennbar präsent war aus der
Vergangenheit, dass sie sich an etwas erinnern konnte. Und
ähnlich wie bei Erwachsenen verbunden mit der Stiftung von
Gemeinsamkeit.
Das Entdecken der eigenen Geschichtlichkeit über das
Erinnern und das Verständnis geschichtlicher
Entwicklungslinien zunächst an der eigenen Familie
(Oma-Mama-Ich, "Wie haben Oma und Opa sich kennengelernt"
etc.) markieren den Eintritt in die Phase des "Zeitwissens",
die für den Pädagogen Heinrich Roth (1906-1983) in "Kind und
Geschichte" erst mit der Schulzeit beginnt (Roth 1955, S.
51). "Erinnerungen im menschlichen Sinne haben zu können,
ist die Voraussetzung für Zeiterleben, und das menschliche
Zeiterleben ist Voraussetzung für geschichtliches Erleben".
(Roth 1955, S. 43)
Allerdings setzt Roth korrekte genealogische Zuordnungen
erst mit dem Alter 8-10 an (Roth 1955, S. 55), die Erfahrung
der eigenen Geschichtlichkeit erst mit der Pubertät (ebd. S.
59). Offensichtlich sind Kinder heute
diesbezüglich früher entwickelt, durch offenere
Erklärungen von Seiten der Erwachsenen, ein Mehr an
"Ernstgenommenwerden" und auch durch die Medien, die
ihnen z.B. sehr früh Bilder von sich selbst als Baby,
Smartphone-Filme von sich selbst etc. vorstellen.
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Abstrakte Oberbegriffe
WAS IST EIN DING?
(6-)
Wir spielten Scharaden und ich wollte einen Tisch
darstellen. Ich erklärte, dass ich jetzt ein Ding
zeige. Da kam die Frage "Was ist ein Ding?"
Ich erklärte, dass ein Ding alles sei, was man
anfassen könne, aber nicht Pflanze oder Tier oder
Mensch. |
Es wurde schnell klar, dass sie mit meiner
Erklärung nicht viel anfangen konnte. Es schien ihr
etwas unheimlich zu sein, dass ein Wort so viel
bedeuten könne. Auch fand sie keinen Spaß daran,
"Dinge" pantomimisch vorzuspielen und zu erraten. Sie
wollte Handlungen und Lebewesen darstellen oder
dargestellt sehen, forderte entschieden nach den
ersten beiden Dingen von mir: "keine Dinge mehr".
Das hat einen naheliegenden Grund darin, dass
Pantomimen/Scharaden selbst Handlungen sind. Aber auch
darin, dass ihr gerade soziale Beziehungen viel
wichtiger sind als Dinge, und unter den Dingen vor
allem die, in denen soziale Beziehungen sich
manifestieren: Autos, Handys, Schulranzen. Und alles,
was man Sammeln kann. Vor allem Sammelbilder. Ihre
ersten Wörter als Kleinkind waren Handlungswörter;
Dingwörter wie "Ball" hat sie zunächst zögerlich
benutzt. Zwischen 2 und 4 waren Dingwörter und
Dingordnungen wichtig, dann traten wieder Beziehungen
und Handlungen in den Vordergrund.
Mit der Eroberung der Schrift wurden dann "Dinge"
erneut wichtiger. Nämlich nun über die "Namen" für
Dinge, die sich schreiben ließen - womit die Dinge
lebendig wurden, auf eine Ebene mit ihr selbst
gerieten, war doch das erste Schreibwort der eigene
Namen. Mit dem Schreiben werden selbst geheimnisvolle
Dinge wie "Kommtjuter" emotional verfügbar,
beherrschbar. Im sozialen Umfeld spielten nun Dinge
eine wichtige Rolle zur Distinktion und für die
Zugehörigkeit. Dinge konnten nun auch die eigene
Entwicklung dokumentieren: "Erst bekomm ich ein Handy,
dann ein Smartphone, dann einen Computer!"
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Philosophische Fragestellungen
IST
ES ECHT, WENN WIR LEBEN? (6-)
Wir saßen am Küchentisch beim Abendbrot und
unterhielten uns über Lebensmittel und Tiere. Da
kam diese Frage, ganz unvermittelt.
Ihre Frage zielte auf den Unterschied zum Traum,
sie meinte, dass sie manchmal "ganz echt"
träume. Es war Sandmännchen-Zeit und ich fragte
zurück, ob sie das Sandmännchen nun in Echt
sehen wolle oder ob es ihr genüge, die Augen
zuzumachen und nur davon zu träumen. Sie lachte,
"in Echt!". |
Das Gespräch danach (es war noch etwas Zeit bis zum
Sandmännchen) zeigte, dass sie ein eigenes Anliegen hatte,
es nicht nur eine aufgeschnappte Frage war. Wir unterhielten
uns über Unterschiede zwischen Träumen und Realität,
Aufwachen, Sich-Zwicken, Miteinander reden als Erfahrungen
von Realität. Da gerade ein Marienkäfer-Bild von ihr auf dem
Tisch lag, fragte ich sie nach dem Unterschied zwischen
gemalten und "echten" Marienkäfern. "Die echten können
fliegen!"
Als ich ihr sagte, dass die Frage, ob wir wirklich leben
oder das Leben nur träumen, eine wichtige für die Menschheit
sei und sich viele kluge Leute diese Frage schon seit 2500
Jahren stellen, reagierte sie erstaunt-stolz: "Ehrlich?!"
Ihre Eltern erzählten mir später, dass sie die Frage schon
einmal kurz davor gestellt hatte, und zwar beim Frühstück.
Der Bezug zu eigenem Traumerleben ist offensichtlich.
Ein dreiviertel Jahr später sprach ich sie auf diese Frage
an und sie sagte ganz lebhaft: "Ich erinnere mich genau! Ich
hatte so ein komisches Gefühl, wie wenn ich unsichtbar
wäre!" Dieses Bekenntnis zeigt auch sehr deutlich die
Grenzen des heute oft propagierten "Philosophierens mit
Kindern". Für Kinder bis zum Beginn der Pubertät steht die -
äußerst heterogene - Erfahrungswelt im Vordergrund, hier der
problematische Bezug zur konkreten Traumerfahrung und zur
konkreten Selbstwahrnehmung.
Begriffliche Arbeit oder ein Bezug zu Denktraditionen liegen
ihnen noch fern. Und doch sind schon Kinder im
Schuleintrittsalter bereit für Vorstufen hierzu, für die
Klärung von Wörtern ("was meinst du, wenn du sagst 'echt'",
"was ist 'echt'"), für die Geschichte von Zhuang Zi
(Schmetterlingstraum) oder ein Bildnis von Platon ("der hat
das Höhlengleichnis erfunden" - Klaras Reaktion auf die
Platon-Büste: "So haben die Leute früher ausgesehen?").
Kurz nach ihrem achten Geburtstag erzählte sie mir, ihre
Freundin Mona habe sie gefragt, ob sie (Mona) wirklich lebe.
Darauf habe Klara ihr geantwortet: "Klar, ich kann dich doch
sehen!"
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"Klassische" Warumfragen. Scherzfragen. Sprachliche
Wirklichkeit
WARUM IST DIE BANANE KRUMM? (6)
Klara stellte diese Frage nie ernsthaft,
präsentierte sie mir allerdings einmal mit sechs
Jahren, als sie eine Banane aß, als Zitat eines in
verschiedenen Varianten existierenden Kinderspruchs,
im Schulhof gelernt, der die Antwort gleich
mitliefert: "Warum ist die Banane krumm? Weil
niemand in den Urlaub zieht und die Banane grade
biegt!" |
Ich habe diese Frage als ernsthaftes Anliegen noch nie von
einem Kind gehört. Sie wurde erstmals öffentlichkeitswirksam
auf einer 1971 erschienenen gleichnamigen Schallplatte für
Kinder aus dem Wagenbach-Verlag gestellt. Die Antwort dort
lautet: "Ja, wenn die Banane grade wär, dann wär es keine
Banane mehr." Frage- und Antworttext stammen von Peter
Rühmkorf, einem vielfach ausgezeichneten Schriftsteller.
Auch gängige Elternratgeber zu Kinderfragen widmen sich
gerne der krummen Banane. Erklärt wird in der Regel mit dem
hängenden Fruchtstand, an dem die Früchte nach oben, zum
Licht wachsen möchten. Die nächste Frage des Kindes könnte
lauten: "Und warum wachsen die Pfirsiche (Birnen, Äpfel ...)
nicht nach oben?". Dann wäre zu verweisen auf das
Büschelwachstum und die längliche Form bei Bananen.
Die beste Antwort auf die Bananenfrage, sollte sie denn
kommen, scheint mir: Mit dem Kind das Bild einer
Bananenstaude anschauen, in Farbe, um auch über reife und
unreife Bananen sprechen zu können und über den langen Weg
der unreif geernteten Bananen zu uns. Youtube bietet auch
schöne Videos zum Thema.
Als ich selbst einmal Klara mit Fünf beim Bananenessen
fragte, "warum ist die Banane krumm", kam die Antwort "Weil,
das reimt sich doch!" Dazu grinste sie verwegen. Dann
bekannte sie sachlich, aber wenig interessiert: "Weiß
nicht". Sie konnte also sehr genau unterscheiden zwischen
Faktenwissen und einer amüsanten Idee, der Realität und
einer sprachlichen Reim-Konstruktion. Ein Jahr später bekam
ich von ihr beim Bananenessen dann den Satz zu hören: "Warum
ist die Banane krumm? Weil niemand in den Urlaub zieht und
die Banane grade biegt!"
Reime spielten für sie ab dem Ende des vierten Lebensjahres
eine große Rolle. Vor allem wollte sie selbst gerne reimen,
nicht so sehr die Reimvorschläge von Erwachsenen anhören.
Sie mochte es allerdings nicht, am Abend gereimte
Geschichten vorgelesen zu bekommen. Reime hatten für sie oft
auch etwas Beunruhigendes. Das lässt an die magischen
Funktionen des Reimes denken, dem im Volksglauben
wirklichkeitsgestaltende Kraft zugesprochen wird. Auch das
"Zauberwort" der Romantik (Eichendorff: "Und die Welt hebt
an zu singen, Triffst du nur das Zauberwort") ist eng an den
Reim gebunden. Eine andere Begründung gab sie selbst einmal:
"Das ist doch keine richtige Geschichte!" Gereimtes wirkte
auf sie also wenig glaubwürdig! Ein erster Ansatz zur
Quellenkritik (allzu Glattes schafft Misstrauen)! Und eine
herbe Absage an die Balladen-Literatur.
Mit sechs Jahren spielt sie dann, geschult an
Kindersprüchen, souverän mit der Kraft des Reimes,
Wirklichkeiten scheinhaft zu beglaubigen. Geistige
Entwicklung und die Anregungen der anderen Schulkinder
eröffnen gemeinsam den Fundus der kindlichen Scherzfragen,
Scherzgedichte und Scherzlieder.
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Eigene Geschichtlichkeit
SEIT WANN KENNST DU MICH SCHON? (6+)
Diese Frage stellte mir
Klara, als sie bereits zur Schule ging. Und zwar
beim Anschauen von Filmclips, die ich von ihr
aufgenommen hatte, als sie kleiner war, beim
Traubenessen, Joghurtessen, Schneemannbauen und
Treppensteigen (singend).
Es fasziniert sie offenkundig, dass ich sie
schon seit ihrer Geburt kenne, dass ich sie in
einer Zeit kannte, an die sie sich selbst nicht
erinnert. Ihre eigene Erinnerung geht nur zurück
bis knapp ins vierte Lebensjahr.
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Fotos aus ihrer eigenen Vergangenheit interessieren sie weit
weniger als Filmclips. Denn sie will nicht wissen, wie sie
ausgesehen habe, sondern vielmehr, wie sie sich verhalten
habe! Verständlich daher, dass sie sich vor allem für die
Zeit interessiert, an die sie sich nicht erinnern kann.
Dabei betrachtet sie sich offenkundig "von außen", findet
sich selbst "süß" - ein Urteil, das sie in dieser Zeit
selbst strikt abgelehnt hat ("ich bin nicht süß, süß ist
Zucker!" - mit Drei).
Oft ist sie irritiert, wenn ich ihr etwas "von früher"
erzähle, erinnert sich z.B. nicht an ihre alten
"Lieblingsfarben", ist ganz erstaunt, dass sie sauer als
Geschmacksnote schon früh mochte, "ehrlich?". Sie setzt
ihren Zustand jetzt als "Klara", ist irritiert, dass dieses
ganz andere Wesen in den Filmen schon Eigenschaften mit ihr
gemeinsam hatte.
Sie fragt hier nicht "Wie lange ...", sondern "Seit wann
kennst du mich schon". Ihre Vorstellung historischer Zeit
hat nun klare Markierungspunkte. Die Irritation, dass die
Oma die Mama der Mama sei, liegt lange zurück. Sie begreift,
mit Erstaunen noch, aber auch fasziniert, ihre eigene
Geschichtlichkeit, ihre eigene Position auf den
verschiedenen Zeitlinien ihrer Wirklichkeit.
Was hier sich artikuliert, ist das Bewußtsein, dass sie über
sich nicht nur durch Introspektion, sondern auch durch
Erfahrung und Auskunft anderer ein Bild gewinnen kann.
Allerdings ist dieses Bild nur im Ansatz integriert. Sie
betrachtet sich selbst als Zweijährige noch wie eine Fremde.
Mit neun Jahren kommt ein neues starkes Interesse an diesen
Clips. Sie will diese nun ihren Freundinnen zeigen: So war
ich mal. Mit einem gewissen Stolz auch, der an Elternstolz
erinnert.
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***
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Nachwort
Fragende Kinder wollen nicht nur etwas über den Gegenstand
erfahren, nach dem sie fragen, sie wollen auch lernen, wie
"Fragen" funktioniert und was zum Beispiel genau dieses
seltsame "Warum" oder andere Fragewörter bedeuten. Und sie
fragen nicht nur nach Dingen, sondern auch nach Beziehungen,
Beziehungen zwischen den Dingen, zwischen den Menschen und
zwischen den Dingen und den Menschen.
Bisweilen will das Kind auch nur eine emotionale
Unterstützung. Es fragt vordergründig nach den Details eines
Autounfalls, will aber erfahren, dass Verletzte gut versorgt
werden und der Papa/die Mama/die Vertrauensperson noch nie
einen schlimmen Unfall hatte. Und schließlich wollen Kinder
mit Fragen manchmal einfach nur die Aufmerksamkeit der
Erwachsenen gewinnen, wollen Zuwendung - auch mit Fragen,
die nerven können, wenn sie nur aus Erwachsenensicht
betrachtet werden.
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